Erinnerung (auf-)zeichnen
Biografische Graphic Novels lassen Opfer des NS-Regimes zu Wort kommen

Überleben in Dachau, Die Geschichte von Francine R. – Widerstand und Deportation und Bald sind wir wieder zu Hause rezensiert von Frank Kaltofen

Die Verarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen im Comic ist keineswegs ein neues Phänomen, obgleich die Anzahl von Graphic Novels, die sich mit ernsten, historischen Themen befassen, innerhalb der letzten zehn bis 15 Jahre in vielen Verlagsprogrammen deutlich zugenommen hat. Die Täter als Hauptfiguren in den Fokus zu rücken, ist dabei aus verschiedenen (nachvollziehbaren) Gründen die Ausnahme geblieben (als solche zu nennen: der zweibändige Comic Hitler von Dieter Kalenbach und Friedemann Bedürftig, der 1989 im Carlsen-Verlag erschien, oder in jüngerer Zeit die im Luftschacht-Verlag publizierte Graphic Novel Insekten). Stattdessen steht das Schicksal der Opfer und Verfolgten im Zentrum. Dabei wird in der Regel beispielhaft anhand konkreter Einzelschicksale erzählt.

Abb. 1: Auschnitt aus Ãœberleben in Dachau 2020, 3. 

So auch im Fall von zahlreichen Veröffentlichungen des in Wien ansässigen Verlags Bahoe Books, bei dem u.a. im Sommer 2021 Der Krieg von Catherine über ein jüdisches Mädchen erschien, das im nationalsozialistisch besetzten Frankreich auf der Flucht um ihr Überleben kämpft. Bahoe Books hat eine ganze Reihe von internationalen Graphic Novels zu den Erlebnissen von KZ-Inhaftierten für das deutschsprachige Publikum erschlossen, darunter auch Überleben in Dachau (Bahoe Books 2020), gezeichnet von Tiburce Oger auf Basis der Erinnerungen seines Großvaters, Guy-Pierre Gautier. Wir erleben dessen zahlreiche Sabotage-Akte gegen die Deutschen und die Akteure der Vichy-Regierung in Frankreich. Im Oktober 1943 wurde Gautier durch die Gestapo verhaftet und verhört, später in Haftanstalten in Frankreich interniert, wo er sich unter anderem an einem Aufstand beteiligte. Im Sommer 1944 wird das Résistance-Mitglied schließlich mit zahllosen anderen Gefangenen in Viehwagons nach Dachau deportiert; seine Zeit dort nimmt etwas weniger als die Hälfte der 86-seitigen Comicerzählung ein. Der französische Originaltitel Ma Guerre. De La Rochelle à Dachau (dt. etwa »Mein Krieg. Von La Rochelle nach Dachau«) wird dieser Handlungsabfolge eher gerecht, wobei die verengende Fokussierung auf den Dachau-Erinnerungsstrang im Titel für einen Verlag mit deutschsprachiger Zielgruppe wohl allzu naheliegend war.

Abb. 2: Ãœbergang zwischen den Zeitebenen in Ãœberleben in Dachau 2020, 5.

Tiburce Oger fängt die Erzählungen seines Großvaters in beklemmenden, gleichzeitig aber sehr lebendigen Bildern ein, die größtenteils in Braun- und Blautönen gehalten sind. Es sind Erinnerungen an »endlose, stundenlange Appelle«, an drakonische Strafen, Prügel, Hinrichtungen. Aber auch an Kameradschaft, vor allem unter seinen Landsmännern, und an kleine Hoffnungsschimmer. »Das Gute im Menschen geht nie ganz verloren«, sticht als ein Satz in dieser gezeichneten Rückschau hervor, der im Gedächtnis bleibt, mag er auch pathetisch wirken. Optisch bemerkenswert sind vor allem Ogers fast filmreife Übergänge zwischen den Zeitebenen, die durch kunstfertige Überblendungen der Bilder umgesetzt werden. Leider krankt der Erzählfluss hin und wieder daran, dass Erinnerungen eben oft fragmentarisch sind, in Assoziationen springend von Ort zu Ort und Zeitpunkt zu Zeitpunkt, Name zu Name. Gerade wer sich erstmals mit der französischen Résistance befasst, wird hier mit Informationen ziemlich überfrachtet.

Eine französische Résistante in Ravensbrück

Eine ähnliche Adaption von persönlichen Erinnerungen einer KZ-Überlebenden bietet Die Geschichte von Francine R. – Widerstand und Deportation (Avant Verlag 2021), die sich ebenfalls mit einer französischen Hauptfigur befasst. Francine hatte sich als junge Frau der Résistance angeschlossen und wurde im Frühjahr 1944 zusammen mit ihrer Schwester von der Gestapo verhaftet. Nach verschiedenen Haft- und Internierungslagern in Frankreich kam sie im Sommer 1944 ins Konzentrationslager Ravensbrück nördlich von Berlin. Sie wurde Zeugin medizinischer Versuche an polnischen Mithäftlingen und musste Zwangsarbeit für die deutsche Industrie in den nahegelegenen Werken leisten.

 

Abb. 3+4: Die Geschichte von Francine R. 2021.

Boris Golzios Graphic Novel ist eine grafische Umsetzung der Tonbandaufnahmen von Gesprächen, die er mit Francine R. geführt hatte, vor ihrem Tod im Jahr 2003, optisch ausgestaltet mit schlichten Zeichnungen in Grau- und Sepiatönen. Sein Zeichenstil erinnert dabei mitunter an die Figuren des Kanadiers Guy Delisle (u.a. bekannt für Aufzeichnungen aus Jerusalem und Shenzhen, beide Reprodukt-Verlag). Golzios Bilder begleiten Francines verbalen Rückblick, der das in sich trägt, was mündlicher Erzählung eigen ist: Wiederholungen, Satzfragmente, auch Mutmaßungen oder Erinnerungslücken. Fakten ergänzt der Zeichner in grafisch abgehobener Form, sodass die Oral History von Francine so unverfälscht wie möglich vor uns steht. »Die Polinnen waren die Schlimmsten... die wuschen sich nie« – auch dies gehört zum vollständigen Bild: Derartige Vorbehalte waren selbst unter diesen Bedingungen (und Jahrzehnte später in der Erinnerung!) noch präsent.

Ende April 1945 gelangte Francine dank der Rettungsaktion der ›Weißen Busse‹ des schwedischen Roten Kreuzes in das skandinavische Land. Bereits im Juli 1945 kehrte sie nach Frankreich zurück. Sie wurde 81 Jahre alt.

Schwedische Überlebende erzählen für junge Leserinnen und Leser

Die markanten ›Weißen Busse‹ des Roten Kreuzes, die das Leiden von Francine R. im Konzentrationslager beendeten, spielen in der schwedischen Comic-Produktion Bald sind wir wieder zu Hause (Cross Cult 2020) eine ungleich prominentere Rolle. Auf Basis von Zeitzeugen-Interviews erzählt diese schwedische Produktion die Geschichten von sechs Holocaust-Überlebenden. Sie alle waren noch Heranwachsende, als die NS-Verbrecher ihre Familien trennten und sie in Ghettos und später in verschiedene Konzentrationslager gebracht wurden. Gekonnt meistert dieser gerade mal rund 100 Seiten lange Comicband den schwierigen Balanceakt zwischen Vereinfachen und Verharmlosen.

Man kennt vieles natürlich aus Büchern, Dokumentarfilmen und anderen Comics: die Enteignung und Entrechtung, das Ghetto, die Waggons. Aber dass diese Bilder rückblickend aus der Sicht damaliger Kinder entstehen, verleiht diesem Comic eine ganz andere Intensität.

 

Abb. 5 (li): Bald sind wir wieder zu Hause 2020, 11.

Abb. 5 (re): Bald sind wir wieder zu Hause 2020, 15

In einfacher Sprache gehalten – und darum auch für junge Leser_innen gut verständlich – werden die sechs Rückblicke zudem in enorm intensiven Bildern erzählt, ohne dass die Zeichnungen versuchen, fotorealistisch zu sein. Dennoch sind die grafischen Eindrücke aus den Konzentrationslagern nicht für jüngere Kinder zu empfehlen. Für den (Geschichts-)Unterricht ist Bald sind wir wieder zuhause aber wie gemacht, zumal der Band im Anhang eine Zeittafel und ein Glossar mitliefert. Ein überaus gelungener und aufwühlender Comic, der zudem mit einer klaren Botschaft daherkommt: »Eine Generation ohne historische Bildung ist schutzlos, wenn es darum geht zu verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt.«

Zeitzeug_innenschaft bewahren (auch) mit der Neunten Kunst

Alle drei Comic-Bände zeigen, dass mit der Befreiung die Geschichte nicht endet – auch nicht das Leiden: Krankheiten wie Typhus rafften auch nach der Ankunft der Alliierten viele der befreiten KZ-Insass_innen dahin, plötzlich verfügbare Nahrungsmittel erwiesen sich nach langer Zeit der Unterernährung als tödlich. Wer auch diese Bedrohungen überlebt, begegnet häufig einer schockierenden Gleichgültigkeit der Gesellschaft und des eigenen Umfelds gegenüber dem Erlebten.
Genau darin liegt die wichtige Mahnung dieser Comics. Sie sind ein wertvolles Zeugnis, zumal die Generationen der Zeitzeug_innen fast ausgestorben sind. Das Bewahren ihrer Erinnerungen und Erzählungen für kommende Generationen ist damit ein umso wichtigeres Anliegen.

Dabei kann (und muss) auch das Medium Comic eine Rolle spielen – das haben offenkundig auch Comicschaffende und Verlage erkannt. Die besprochenen Bände zeigen indes die Herausforderung, narrative Interviews mit Überlebenden ›eins zu eins‹ in einen Comic zu überführen; hier scheinen kürzere biografische ›Übersichten‹ wie Bald sind wir wieder zuhause besser zu funktionieren. Entscheidend ist aber, die Stimmen der Opfer lebendig zu halten – auch für (Comic-)Leser_innen der kommenden Jahrzehnte.

 

 

Ãœberleben in Dachau
Guy-Pierre Gautier, Tiburce Oger
Wien: Bahoe Books, 2020
86 S., 19,00 Euro
ISBN 978-3-903290-20-4
 

 

 

Die Geschichte von Francine R. – Widerstand und Deportation
Boris Golzio
Berlin: Avant, 2021
136 S., 24,00 Euro
ISBN: 978-3-96445-047-0

 

Bald sind wir wieder zu Hause
Jessica Bab Bonde, Peter Bergting
Ludwigsburg: Cross Cult, 2020
104 S., 20,00 Euro
ISBN: 978-3-96658-178-3

 

 

Zum Weiterlesen:  Beyond MAUS. The Legacy of Holocaust Comics