Den Holocaust erinnern, erzählen und zeichnen
Ein Sammelband zu Holocaustcomics Beyond MAUS

Beyond MAUS. The Legacy of Holocaust Comics rezensiert von Deborah Fallis

Beyond MAUS untersucht die Frage, wie über Art Spiegelmans kanonisierte Graphic Novel Maus hinaus der Holocaust in Comics erinnert wird. Die interdisziplinäre Ausrichtung des Bandes eröffnet vielfältige Perspektiven der Comicforschung.

Der von den einschlägig ausgewiesenen Herausgebern Ole Frahm, Hans-Joachim Hahn und Markus Streb verantwortete Sammelband Beyond MAUS. The Legacy of Holocaust Comics umfasst zahlreiche englischsprachige Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen. Sie sind das Ergebnis einer internationalen Konferenz an der Universität Graz im Jahre 2019. Die zur Untersuchung ausgewählten und in Ausschnitten auch dokumentierten Comics reichen von kanonisch bis obskur. Ausgehend von der Frage, wie das Medium Comic den Holocaust darstellen kann, wird die Bedeutung von Fotografie und Film für die postmemory (13) – dem von Marianne Hirsch entwickelte Begriff für das Verhältnis der Nachfolgegenerationen zur Shoah – Rezeption und den Möglichkeiten des Comics gegenübergestellt.

Der Band geht von folgender grundsätzlicher Überlegung aus: Das serielle Zeichnen, so Herausgeber Ole Frahm im Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur (26.11.2021), biete »eine Gegen-Erinnerung zu der von den Nationalsozialisten dominierten fotografischen Erinnerung, die bis heute unser visuelles Gedächtnis beherrsch[t]«. Diese serielle Erzählweise könne damit ein visuelles Gedächtnis erzeugen. Maßgebend für diese These ist die Differenz zwischen dem, was gesehen wird und dem, was gezeigt werden kann: Bei der Fotografie ist diese Differenz minimal, bei der Zeichnung deutlich größer. Die Frage, wie der Holocaust erinnert werden kann, ist damit insbesondere eine Frage des Mediums.

Die populären, einst mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten und zuletzt in Tennessee von konservativen Kräften aus dem Unterricht verbannten Maus-Comics haben gezeigt, dass die Form des vermeintlichen Unterhaltungsmediums sehr wohl das Potenzial hat, die Erinnerung an den Holocaust adäquat künstlerisch zu bearbeiten. Wesentlich in den Maus-Comics, ist, dass Juden_Jüdinnen als Opfergruppe benannt werden. Dahingehend unterscheiden sie sich auch von anderen Holocaustcomics. Durch die Bekanntheit von Maus sind nun zahlreiche weitere Holocaustcomics sichtbarer geworden, derer sich der Band annimmt.

Mit der für diesen Band zentralen Frage der Repräsentation befassen sich mehrere Beiträge: Neben seriellen Zeichnungen und Graphic Novels werden beispielsweise in Emil Grubers Beitrag auch Karikaturen und nicht-serielle Zeichnungen daraufhin untersucht, wie sie die Verfolgung von Juden_Jüdinnen thematisieren und das visuelle Gedächtnis der Rezipient_innen formen. Ole Frahm setzt sich mit Geistern, Golems und Engeln in Holocaustcomics auseinander und untersucht neben anderen Modi der Wiederholung auch die Reproduktion von Stereotypen: Wo wird reproduziert, wo wird repräsentiert, wo verlaufen die Grenzen zwischen Adaption und Affirmation? Dennoch arbeiten die Beiträge nicht mit rigiden Grenzen: Von einer grundsätzlichen narrativen Freiheit ausgehend, nach der Comics auch alternative Geschichtserzählungen vornehmen können, untersucht Hans-Joachim Hahn Hergéʼs Tintin Comics, in denen er versteckte, esoterische Lesarten und ambige Metaphorik und Handlungselemente bei der Darstellung von Juden_Jüdinnen nachweist.

Subtil ist auch die Entmenschlichung von Juden_Jüdinnen bei der Darstellung von Konzentrationslagern im Golden Age (1938–1955) des Comics, wie Markus Streb anhand von Horror-, Abenteuer- und Kriegscomics untersucht. Bei Horrorcomics beispielsweise erscheint Rache immer wieder als Schlüsselmotiv, Täter werden oft als Monster dargestellt, doch die Identität der Opfer bleibt unerwähnt. Die Verbrechen der Nazis funktionieren hier als Referenz, die Authentizität garantiert und eine mystifizierende Lesart des Holocaust ermöglicht (113). Weitere Ambiguitäten lassen sich in der Animalisierung von Juden_Jüdinnen nachweisen, wie Didier Pasamonik verdeutlicht: Die Darstellung von diesen als Mäuse in Maus – einerseits comic-historisch fundiert (Micky Mouse) und andererseits bei Spiegelman stets als ein Spiel mit Masken durchschaubar (vgl. Frahm 2006) – steht in einem Spannungsverhältnis zu dem antisemitischen Vergleich von Juden_Jüdinnen mit Ratten etwa in dem antisemitischen Propagandafilm DER EWIGE JUDE (1940).

Neben Fragen nach Repräsentation erweisen sich auch Identifikation und Empathie als wiederkehrende Themen: Kees Ribbens nimmt anhand von August Froehlichs Nazi Death Parade eine Analyse des seriellen Narrativs vor, in dem er eine selektive Repräsentation des Holocausts entdeckt: Der Ort bzw. Name des Lagers wird ausgelassen und während die Täter explizit Nazis und Deutsche genannt werden, bleiben die Opfer namenlos, nicht als Juden_Jüdinnen kategorisiert und erlauben so keine Identifikation mit den Figuren, was Ribbens als Hinweis auf die Entmenschlichung in Konzentrationslagern interpretiert. Die Erfahrungen von Kindern im Holocaust untersucht Susanne Korbel in israelischen Graphic Novels und Comics und beobachtet darin Strategien des re-enactments, eine biographische visuelle Narratologie und das Verschmelzen von Genres. Diese würden die Rezeption von Erwachsenen und Kindern mit dem Ziel der identifikatorischen Empathie befördern. Eine kritische Auseinandersetzung auch mit den »dunklen Seiten der Empathie« (so der Titel einer Studie von Fritz Breithaupt) hätte die Beiträge, die Empathie in den Blick nehmen, sicherlich bereichern können.

Eine besondere Stärke des Bandes liegt zweifellos in der internationalen Vielfalt der Perspektiven: So untersucht Jacqueline Berndt Maus in Beziehung zu japanischen Mangas und japanischer Erinnerungskultur und widerlegt überzeugend die Annahme, Mangas seien aufgrund ihrer Neigung zu Niedlichkeit und Eskapismus kein geeignetes für die Erinnerung an den Holocaust. Eine weitere internationale Perspektive zeigt Kalina Kupczyńska anhand von polnischen Comics auf. Zwischen den beliebten historischen und autobiografischen Comics, die mit dem Ziel der Authentizität und historischen Korrektheit zumeist konventionell erzählen, entdeckt sie eine Leerstelle: Zwar sind historische Comics in Polen beliebt, es finden sich aber selten Comics, die sich mit autobiografischen postmemory Reflektionen über den Holocaust befassen. Diese autobiografischen Elemente bei Maus und Michel Kichka‘s Deuxième Génération untersuchen Nina Eckhoff-Heindl und Véronique Sina in ihrem Beitrag, der die Remedialisierung ikonischer Bilder in den Comics der Nachkriegsgeneration in den Blick nimmt, als Medium der Verarbeitung von (post)traumatischen Erlebnissen.

Während die Mehrheit der Beiträge eher narrative und ästhetische Aspekte der Comics untersucht, legt Georg Maschnig eine empirische Untersuchung des didaktischen Potenzials von Holocaust-Comics im österreichischen Schulunterricht vor. Einen weiteren, ganz eigenen Zugang wählt Dana Mihăilescu, die Monströsität, Sexualität und weibliche Perspektiven anhand von Emil Ferrisʼ Graphic Novel My Favourite Thing Is Monsters. Book I beleuchtet.

Der Form und dem Umfang des Sammelbandes entsprechend, gibt es keine alles umfassende lineare Argumentation, sondern wechselnde Schwerpunkte, Begriffe und Theorien – dem komplexen Thema gerecht werdend erzählt Beyond MAUS eben keine single story, sondern mehrere. Die Beiträge lesen sich trotz unterschiedlicher Länge und Dichte gut. Es gelingt ihnen, einen groben Überblick über das Themenfeld herzustellen und eine Bandbreite an verschiedenen Holocaustcomics zu untersuchen. Die Lektüre des Bandes fordert seine Zeit, aber lohnt sich auch für Interessierte jenseits der Comicforschung: Denn Beyond MAUS erweitert nicht nur die Comicforschung und kann zukünftige Forschungsprojekte inspirieren, sondern behandelt auch Fragen der Darstellbarkeit und Repräsentation, die über Comics hinaus relevant sind.

 

Beyond MAUS
The Legacy of Holocaust Comics
Ole Frahm, Hans-Joachim Hahn, Markus Streb (Hg.)
Wien: Böhlau Verlag, 2021
420 S., 55,00 Euro
ISBN  9783205210658