Auf den Punkt gebracht.

Kusama. Eine Graphic Novel rezensiert von Barbara M. Eggert

Kusama: ossessioni, amori e arte – so lautete der italienische Originaltitel der von Elisa Macellari gestalteten Comicbiografie über Yayoi Kusama (*1929). Die bilddominante grafische Erzählung vermittelt auf eindrucksvolle Weise sowohl die Relevanz von Kusamas Schaffen für die Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts als auch deren autotherapeutische Wirksamkeit für die Künstlerin selbst.

Seit mindestens 20 Jahren haben biografische Comics über Kunstschaffende einen festen Platz innerhalb des sich immer weiter ausdifferenzierenden Spektrums der Comicgenres. Willi Blöß begann bereits 1999 mit der Veröffentlichung multimodaler Biografien über bildende Künstler_innen. Seither sind 38 Hefte in seiner seit 2002 im Eigenverlag herausgegebenen Reihe Künstler-Comic-Biografien erschienen. Die meisten Comicverlage führen Biografien als eines von vielen Genres in ihrem Graphic Novel Sortiment, wie z. B. Reprodukt oder Nowbro. Der nicht auf Comics spezialisierte Laurence King Verlag, bei dem Kusama erschienen ist, schuf mit Graphic Lives im Jahr 2019 hierfür eine eigene Sektion (Harris, o. S.).

Die japanische Ausnahmekünstlerin Yayoi Kusama revolutionierte mit ihren in den 1960er und 1970er Jahren ausgehend von New York die internationale Kunstwelt. 1973 kehrte sie nach Japan zurück und wies sich 1975 selbst in Tokyo in die offene Psychiatrie ein. Von dort aus geht Kusama seither ihrem obsessiven Kunstschaffen nach.

Elisa Macellaris visuelle Einführung in und Überblick über das Leben von Yayoi Kusama wurde von dem Verleger Balthazar Pagani angeregt, dem Gründer und Direktor von BesideBooks. Dort erschien die Biografie in italienischer Sprache, bevor sie u. a. ins Englische und Deutsche übersetzt wurde Der Comicvita vorangestellt ist ein dreiseitiges Vorwort von Macellari in dem sie u. a. aus Kusamas Autobiografie Infinity Net (2011) zitiert, die sich bei vergleichender Lektüre als wichtigste Quelle für Kusama herausstellt. Dies hätte im Vorwort durchaus deutlicher gemacht werden können, denn die Figurenrede wie auch die als extradiegetisch-heterodiegetische markierte Erzählinstanz, die sich in den Textboxen manifestiert, speisen sich – zum Teil wörtlich – aus Kusamas eigenen Formulierungen.

Im Prolog zu Infinity Net schreibt Yayoi Kusama: »My constant battle with art began when I was still a child« (S. 7). Es war ein Kampf, den sie führen wollte und musste, um sich künstlerisch zu entfalten und psychisch auszubalancieren. Im November 1957 verließ die damals 27-Jährige ihre Heimatstadt Matsumoto in der Präfektur Nagano, um sich in den USA eine Karriere in der Kunstwelt aufzubauen, die ihr in Japan – zumal als Frau – verwehrt geblieben wäre. Die erste Soloausstellung hatte sie bereits einen Monat später in der Dusanne Gallery in Seattle. Von dort wechselte sie nach New York, wo die Brata Gallery zwei Jahre später ihre Soloshow Obsessional Monochrome featurte. Über dieses Ereignis sowie über die Rolle von Punkten in ihrem Kunstschaffen schreibt Yayoi Kusama in dem Kapitel »Taking my Stand with a Single Polka Dot«:

The show consisted of several white-on-black infinity et paintings that ignored composition and had no centres. […] My desire was to predict and measure the infinity of the unbounded universe, from my own position in it, with dots – an accumulation of particles forming the negative spaces in the net. How deep was the mystery? Did infinite infinities exist beyond our universe? In exploring these questions I wanted to examine my own life. One polka dot: a single particle among billions (Kusama, S. 23).

Punkte und Kreisformen spielen gleichfalls in der visuellen Umsetzung des Lebens von Yayoi Kusama durch Elisa Macellari eine zentrale Rolle, auf inhaltlicher wie formaler Ebene. Runde Panels dienen dazu, Details oder den Wechsel der Blickrichtung zu inszenieren sowie für infografikartige Layouts: So verteilt Macellari beispielsweise das breite Aktivitätsspektrum von Yayoi Kusamas Studio auf Medaillons und verstreut diese wie Konfetti über mehrere Seiten (S. 79–81).

Auf dem Cover zeigt Macellari die Künstlerin inmitten eines Meeres aus phallusförmigen Gebilden aus weißem Stoff mit roten Punkten (Abb. 1): Der von einem roten Onepiece mit weißen Tupfen bekleidete Körper der Biografierten bildet eine Diagonale in diesem Phallusteppich. Seit 1961 fertigte Kusama diese soft sculptures an – und zwar nicht aus Sexbesessenheit, wie ihr vielfach unterstellt wurde:

It’s quite the opposite – I make the objects because they horrify me. I began making penises in order to heal my feelings of disgust towards sex. Reproducing the objects, again and again, was my way of conquering the fear. It was a kind of self-therapy, to which I gave the name ›Psychosomatic Art‹ (Kusama, S. 42).

Schon von Kindheit an war Kunst, zumal repetitives Schaffen, für Yayoi Kusama eine obsessiv betriebene Methode, um übermächtige visuelle Reize zu verarbeiten, die bei ihr zu Halluzinationen und Nervenzusammenbrüchen führen konnten. Die restriktive japanische Gesellschaft und ihr hiervon geprägtes Elternhaus waren für die angehende Künstlerin unerträglich, weswegen sie in die USA auswanderte. Auf der Zeit in den USA liegt der Schwerpunkt der Autobiografie und auch der Comicbiografie – insbesondere auf Kusamas Rolle als »Hohepriesterin von Liebe und Pazifismus« (S. 70). Obgleich selbst asexuell setzte sie ihre Kunst, insbesondere Happenings, dafür ein, um Sex und Liebe, auch homosexuelle Liebe, zu enttabuisieren, als Selbstermächtigung zu inszenieren und als Anti-Kriegs-Statement zu zelebrieren. Marcellari gibt im Medium Comic das Obssessive, Ausufernde, Grenzüberschreitende von Kusamas Arbeiten wieder, indem sie die Punkte und Punktmuster in die erlebte Welt ihrer Protagonistin auswuchern lässt. Hierdurch verschwindet auch in der visuellen Interpretation die Grenzziehung zwischen den Kunstwerken von Kusama und deren Leben. »Obsessionen ergießen sich von der Leinwand und werden Bestandteil der Umgebung« informiert die Textbox zu einem doppelseitigen Splashpanel, das Yayoi Kusamas Avatar inmitten von phallusförmigen soft sculptures zeigt (S. 58/59) – es folgt eine Paraphrase der weiter oben zitierten Passage aus der Autobiografie in Form von Sprechblasen: »Es ist eine Art Eigentherapie. Ich würde es somatische Kunst nennen« (Marcellari, S. 61).

Diese Aufsplittung von Kusamas autobiografischem Text (Kusama, S. 42) auf eine körperlose, scheinbar heterodiegetische Erzählinstanz einerseits und Figurenrede andererseits erscheint arbiträr, vor allem aber fragwürdig in Bezug auf den Umgang mit Quellen, da Zitate so nur für diejenigen Personen als solche erkennbar sind, die Infinity Net gelesen haben. Hier wäre eine Markierung wünschenswert gewesen, die für die Rezipierenden ein Differenzieren zwischen Zitat aus der Autobiografie und freier Textschöpfung ermöglicht, z.B. mittels Typografie. Auf der grafischen Ebene hingegen überzeugt Macellaris Kusama-Biografie komplett: Dies gilt insbesondere für die visuelle Umsetzung der Halluzinationen und Visionen von Kusama, die aus Sicht der Protagonistin als ästhetisches Ereignis und bedrohliches Szenario zugleich dargestellt werden, wie z. B. das Meer aus sprechenden Veilchen (S. 11–12). Der zweidimensionale Zeichenstil ermöglicht ein reizvolles Spiel mit den Zwischenräumen, gemusterten Flächen und den unterschiedlichen Bildebenen, was zum Teil an Collagen, zum Teil an japanische Holzschnitte erinnert. Abgesehen von dem dominanten Rot-Weiß-Kontrast, der dem Werk Kusamas entspringt, umfasst die Farbpalette von Macellari auch Pastelltöne wie Lachsrosa, Türkis und Lila, die im Oeuvre der Künstlerin nicht vorkommen und deutlich machen, dass es Macellari hier nicht nur um die Dokumentation geht: Die grafische Biografie ist vielmehr eine künstlerische Hommage an das künstlerische Schaffen Kusamas in dessen synchroner Ramifizierung und Komplexität. Gerade hierfür erweist sich das queere Medium Comic als hochgradig geeignet, um die parallele Existenz von Erlebniswelten ent-hierarchisierend vor Augen zu führen. Ferner bereichert die Publikation mit ihrem Fokus auf eine asexuelle Kunstschaffende das LGBTQ+ Spektrum von Comics um eine wichtige Facette. Vor allem aber ist der Comic ein Fest fürs Auge, mit dem eine Ausnahmekünstlerin kongenial gefeiert wird.

Bibliografie

    • Harris, Gareth: Ka-boom! How Art History is embracing the Comic Book Genre. In The Art Newspaper 2020, https://www.theartnewspaper.com/2020/09/25/ka-boom-how-art-history-is-embracing-the-comic-book-genre. Letzter Zugriff am 10.07.2022.

      Kusama, Yayoi: Infinity Net. Aus dem Japanischen von Ralph McCarthy. London: Tate Publishing, 2011.

      Seeßlen, Georg: Paranoide Sprechblase. Kleine Kulturgeschichte des Comics. In Spex.de. <https://spex.de/paranoide-sprechblasen-kleine-kulturgeschichte-des-comics>. 10.02.2016. Letzter Zugriff am 10.07.2022.

 

Kusama. Eine Graphic Novel
Aus dem Englischen von Juliane Lochner
Elisa Macellari
Berlin: Laurence King Verlag, 2020
128 S., 18,50 Euro
ISBN 978-3962441500