Ein Handbuch, das seinen Namen verdient

Handbuch Polnische Comickulturen nach 1989 rezensiert von Bernd Dolle-Weinkauff

Der vorliegende Band darf als ein Beispiel dafür angesehen werden, welche Entdeckungen zu machen sein könnten, wenn wir über den Horizont der eigenen/eigener wie auch der traditionellen bekannten Comickulturen hinausblicken und bereit sind, uns ein wenig bei den nächsten (ost-)europäischen Nachbarn umzusehen.

Comics und grafische Erzählungen aus Polen sind in den deutschsprachigen Ländern bislang weitgehend unbekannt. Zu den ganz wenigen, die in Übersetzung – meist auf dem Umweg über Verlage aus dem frankofonen Raum – ihren Weg in das Angebot hierzulande fanden, zählen etwa Grzegorz Rosińskis Thorgal-Serie (ab 1987) und Marzena Sowas Marzi (ab 2012); wobei es sich im ersten Fall um eine Koproduktion mit dem belgischen Szenaristen Jean van Hamme, im zweiten um eine Zusammenarbeit mit dem französischen Zeichner Sylvain Savoia handelte. In jüngerer Zeit vielleicht noch Fugazi Music Club (2016) und Ein Leben für den Fußball. Die Geschichte von Oskar Rohr (2020) von Marcin Podolec, wiederum eine Koproduktion mit Julian Voloj, einem – diesmal – deutschen Szenaristen. Dass diese Beispiele nicht einmal einen Ansatz dessen erahnen lassen, was der zeitgenössische polnische Comic zu bieten hat, zeichnete sich bereits in den Beiträgen einer Tagung an der Mainzer Universität zu diesem Thema aus dem Jahr 2014 ab, die anschließend in dem Band Comics in Polen, Polen im Comic publiziert wurden. Die Organisatorinnen dieser Tagung, Kalina Kupczyńska (Łódź) und Renata Makarska (Mainz/Germersheim), haben nun ein Handbuch herausgegeben, welches sich sowohl an ein deutschsprachiges, comicinteressiertes Publikum generell, als auch an eine an der Geschichte und Kultur Mittel- und Osteuropas interessierte Leserschaft, nicht zuletzt Studierende der Slawistik und Geschichte, richtet. Es handelt sich also um ein als Handbuch bezeichnetes Werk, das die Erschließung eines bislang völlig fremd gebliebenen Terrains intendiert, welches vor allem an der Breite und Qualität seines Informationsgehalts und dessen adäquater Vermittlung nicht nur für ein akademisch geschultes Publikum zu messen ist.

Die Herausgeberinnen haben zwei Dutzend Autor_innen versammelt und selbst eine Reihe von grundlegenden Beiträgen beigesteuert. Zwar kommt die Mehrheit aus dem akademischen Bereich, doch sind eine Reihe von ihnen auch in anderen kulturellen Bereichen tätig; hinzu kommen eher künstlerisch, journalistisch, schriftstellerisch, verlegerisch sowie im Übersetzungswesen tätige Verfasser_innen. Diese Mischung ist geeignet, unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand zu fördern, wobei es den Herausgeberinnen – das darf vorab bemerkt werden – in ganz ausgezeichneter Weise gelungen ist, dieses Bündel von Ansichten und Einsichten zielgerichtet auf ein kompaktes Ganzes hin zu schnüren, das sich zu Recht mit dem Etikett Handbuch versehen darf.

Nach einer stringent die Intentionen des Handbuchprojekts darlegenden Einleitung der Herausgeberinnen fällt das erste Kapitel (18–37) bzw. dessen Titel »Polnischer Comic nach 1989. Abschied von der goldenen Ära« allerdings ein wenig irritierend aus. Nicht nur, dass der doch reichlich verschlissene Begriff der ›goldenen Ära‹« in der internationalen Geschichte des Comics zur Floskel geraten ist – es wird auch nicht recht klar, was darunter zu verstehen ist und worauf er sich in der Geschichte der Comics in Polen beziehen mag. Gleichwohl sind die darunter versammelten Beiträge recht instruktiv und aufschlussreich, gerade weil sie ganz unterschiedliche Schwerpunkte setzen. »Comicforschung in Polen« von Wojciech Birek bietet nicht nur einen Aufriss der einschlägigen Tendenzen, sondern steckt auch deren institutionellen Rahmen ab. Mit dem anschließenden Beitrag »Comic und Underground - Der ›dritte Umlauf‹« (23–27) von Piotr Klonowski wird der subversive Comic der 1980er und 1990er Jahre als treibende Kraft der jüngeren Entwicklungen markiert und Paweł Timofiejuks »Die internationale Karriere des polnischen Comics« (27–32) geht bis in die unmittelbare Nachkriegszeit zurück, um die frühen Spuren wie auch die später verstärkt einsetzenden Ausstrahlungen über die Grenzen Polens hinaus aufzuzeigen. Ein weiterer Beitrag von Wojciech Birek »Der polnische Comic zwischen Tradition und neuen Entwicklungstendenzen« (32–37) bietet gleichsam eine Klammer für dieses erste Kapitel und verfolgt zentrale Entwicklungslinien bis hin zur Ausbildung von Ansätzen der Graphic Novel, unterschiedlicher Stilarten und Techniken und dem Vordringen der Comickultur in den Kunstbetrieb und die Museen.

Das umfangreichste Kapitel des Bandes Genres und Themen (40–186) versammelt neben den in der Überschrift angekündigten Gegenständen auch Beträge zu unterschiedlichen Medienformaten, – wie Webcomic (von Jerzy Szyłak), Pressecomic (von Arkadiusz Łuba) – adressatenspezifische Bilderzählung wie »Comics für Kinder« (von Mariusz Hałuska) und Fanzines (von Piotr Klonowski). Den Schwerpunkt bildet hier allerdings ein nach unterschiedlichen zeitgeschichtlichen Themen gegliedertes Unterkapitel über Geschichtscomics (»Comic und der Zweite Weltkrieg und Comic und die Shoah«, von Justyna Czaja und Alina Molisak), »Comic und die Volksrepublik Polen« (von Tomasz Pstrągowski), »Solidarność« im Comic (von Renata Makarska) und »Comic und Regionalgeschichte« (von Marek Kochanowski); als eine Art Appendix ist hier noch ein Beitrag von Przemysław Zawrotny über »Das Urbane im Comic« angefügt. Auf diese Weise bietet das Kapitel ein facettenreiches Bild des Formen- und Themenangebots, wobei die einzelnen Schwerpunkte die Spezifika der polnischen Comiclandschaft sehr prägnant erkennen lassen.

Des Weiteren finden sich in diesem zweiten Kapitel Untersuchungen zu Comics und Gender (von Kinga Kuczyńska), Erotik und Pornographie (Kalina Kupczyńska), sowie zu Superheldencomics aus der Feder polnischer Autoren (Jerzy Szyłak). Allen diesen vorangestellt ist eine ausführliche Untersuchung des autobiografischen Comics von Kalina Kupczyńska (40–51), womit diese nicht zu Unrecht eine exponierte Stellung erhält, da es sich hierbei um einen Arbeitsschwerpunkt der Verfasserin und Herausgeberin handelt.

Im anschließenden dritten Kapitel des Handbuchs werden die Beziehungen des Comics zu den bildenden Künsten (Artur Wabik, 190–200), zur Literatur (Magdalena Lachmann, 201–221), zum Film (Tomasz Żaglewski, 221–228) und zur Musik (Bartek Chaciński/Renata Makarska), 229–237) thematisiert. Alle diese Darstellungen gliedern sich jeweils in einen allgemeinen Teil und nachfolgende exemplarische Einzelanalysen maßgeblicher Werke. Diese erlauben exemplarische Einblicke in die Rezeption durch die anderen Künste und Medien bzw. in die Adaptionen von Elementen aus diesen im polnischen Comic. Interessant und vertiefend wäre es gewesen, wenn in einer Einleitung zu diesem Kapitel Hinweise zu Gemeinsamkeiten oder prinzipiellen Unterschieden in den Relationen zu den einzelnen Medien und Künsten hätten geboten werden können.

Das die Darstellungen abschließende vierte Kapitel »Soziologie des polnischen Comics« (240–273) versammelt zum einen Ausführungen zu Gesellschaftskritik und neuen Gattungen (von Przemysław Zawrotny) sowie politischer Propaganda (von Paweł Timofiejuk), zu den deutsch-polnischen Comicbeziehungen (Kalina Kupczyńska) und bietet in einzelnen Beiträgen Einblicke in das Distributionswesen und Rezeptionsverhältnisse, d.h. den Markt, die Verlage, Festivals, Sammlungen sowie Kritik in den Feuilletons und einschlägigen Magazinen.

Eine fundierte kritische Würdigung des Bandes im Hinblick auf Vollständigkeit und ein Zutreffen der gegebenen Einschätzungen kann sicherlich nur durch mit den polnischen Verhältnissen engstens vertraute Fachleute geliefert werden, wobei auch in diesem Fall wieder die Berechtigung unterschiedlicher Meinungen in Rechnung zu stellen wäre. Aus der Sicht des anvisierten deutschen Rezipienten aber kann ich nur feststellen, dass dieses Handbuch geradezu einen Meilenstein darstellt als Ansatz zu einer Annäherung an und einem Verständnis der polnischen Comickultur der zurückliegenden drei Dekaden. Hier wird erstmals ein umfassender Einblick in die neuere polnische Comiclandschaft gegeben, der sich auf die Beteiligung von Beiträgerinnen und Beiträgern aus unterschiedlichen Medien- und Kunstbereichen stützt, klare Schwerpunkte setzt und dabei gleichzeitig auch ein Bild vom Stand und den Tendenzen der Comicforschung in Polen bietet. Als sehr hilfreich angesichts des weithin unbekannten Terrains erweisen sich dabei nicht zuletzt die Kurzbiografien zeitgenössischer Autor_innen, die sich über knapp 70 Seiten erstrecken (276–345) sowie ein alphabetisches Register der während des behandelten Zeitraums erschienenen Werke, welches sowohl selbständige als auch unselbständige Printausgaben sowie Webcomics umfasst (356–374). Zusammen mit dem anschließenden Namensregister (375–382) lässt auf diese Weise auch der rein dokumentarische Teil des Bandes kaum Wünsche offen. Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass die reiche Ausstattung mit Abbildungen für ein hohes Maß an Anschaulichkeit sorgt und generell in Druck, grafischer Aufmachung und Qualität der piktoralen Komponenten als beispielhaft für ein gut ausgestattetes Handbuch angesehen werden darf. Der Anteil des Ch. A. Bachmann Verlags daran, der in der Publikation von Arbeiten über Comics und Bilderzählungen über eine langjährige Erfahrung verfügt, dürfte nicht gering einzuschätzen sein.

 

Handbuch Polnische Comickulturen nach 1989
Kalina Kupczyńska und Renata Makarska (Hg.)
Berlin: Christian A. Bachmann, 2021
390 S., 29,90 Euro
ISBN 9783962340537