Dialog im Comic | Comic im Dialog

Comic und Erinnerung: Oral History im Werk von Emmanuel Guibert rezensiert von Johannes C. P. Schmid

Mit Comic und Erinnerung legt Bettina Julia Egger nicht nur eine ausfĂŒhrliche Studie zum nichtfiktionalen Werk von Emmanuel Guibert vor, sondern liefert gleichzeitig eine innovative und toll umgesetzte Konzeption von Comicforschung als Wendebuch, das Schrifttext und Comictext sinnvoll kombiniert.

Das Thema â€șErinnerungâ€č beschĂ€ftigt sowohl den Comicbetrieb abseits des Mainstreams als auch die comics studies schon seit lĂ€ngerem. Bettina Julia Egger hat mit ihrer 2020 mit dem Roland Faelske-Preis ausgezeichneten Dissertation nun einen Beitrag vorgelegt, der sich konzentriert mit diesem Aspekt im Werk des französischen Comicautoren Emmanuel Guibert auseinandersetzt. Guiberts Comictexte materialisieren die Erinnerungen seiner GesprĂ€chspartner_innen graphisch und geben deren Erlebnisse aus der ersten Person wieder. Seine Alan- und Le Photographe-Zyklen fasst die Autorin hierbei als â€șOral History Comicsâ€č. Auch wenn bereits Ansatz und Fokus innovativ sind, liegt der eigentliche Clou der Arbeit in ihrer Konzeption als Wendebuch, das neben dem klassischen wissenschaftlichen Schrifttext ein von der Autorin gefĂŒhrtes Interview mit Emmanuel Guibert in Comicform enthĂ€lt.1 So wird kĂŒnstlerische bzw. practice-based Forschung als ergĂ€nzende, vielleicht sogar gleichberechtigte Methode eingefĂŒhrt, in der Egger viele der Methoden, die sie in ihrer Analyse diskutiert, ihrerseits praktisch anwendet. Neben einem enormen Aufwand bringt eine comicbasierte Comicforschung selbstverstĂ€ndlich auch EinschrĂ€nkungen in Bezug auf FlexibilitĂ€t und auch Exaktheit mit sich. Zeichnungen sind aufwendiger zu produzieren, schwieriger zu ĂŒberarbeiten und vor allem auch generell vieldeutiger. Im Gegensatz zu den bekannten Werken von Scott McCloud oder Unflattening von Nick Sousanis arbeitet Egger mit einer Medienkombination, die die StĂ€rken beider Medien zusammenbringt. Diese Konzeption allein macht Comic und Erinnerung sicherlich allen grundsĂ€tzlich an Comicforschung Interessierten hochinteressant und grundsympathisch. Nun mag man befĂŒrchten, dass bei einer derartigen Konzeption der Comic vielleicht nur als Gimmick daherkommt oder die sonstige Arbeit nicht wissenschaftlich fundiert ist. Dies kann man zum GlĂŒck direkt ausrĂ€umen: Beide Teile funktionieren in sich, erzeugen aber gleichsam eine besondere Synergie.

In ihrem Ansatz zur Erinnerung greift Egger auf das von Aleida und Jan Assmann entwickelte Konzept des kommunikativen GedĂ€chtnisses zurĂŒck, welches fĂŒr Guiberts Schaffen intuitiv ĂŒberzeugt. So basiert dessen Arbeit maßgeblich auf jahrelangen GesprĂ€chen mit den portraitieren Personen, deren Erinnerungen Guibert anschließend als Comic umsetzt. Weiter spitzt sie ihre Deutung der untersuchten Werke von Guibert auf â€șOral History Comicsâ€č zu und grenzt sie damit von anderen gĂ€ngigen Kategorien wie der (Auto-)Biografie ab. Hierbei zieht sie wiederholt Vergleiche zu Art Spiegelmans Maus, welches auch Guibert selbst im Interview als maßgeblichen Einfluss benennt. Aus dem Begriff der â€șOral Historyâ€č stellt Egger das Dialogische und die aktive Beteiligung des Interviewers heraus. Der von Egger ebenfalls angefĂŒhrte Aspekt der â€șMultiperspektivierungâ€č von Geschichtsschreibung will jedoch weniger auf einen Zyklus passen, der maßgeblich auf der Einzelerinnerung von Guiberts Zufallsbekanntschaft Alan I. Cope beruht. Jedoch bleibt das erdachte Genre stark auf Guibert und vornehmlich auf den Alan-Zyklus zugeschnitten. Neben Maus ließen sich beispielsweise Werke wie die dokumentarischen Comics von Joe Sacco als Vergleich heranziehen. So nutzt Sacco Ă€hnliche Methoden, arbeitet dabei aber deutlich weniger biografisch, sondern interviewt stattdessen viele verschiedene Zeug_innen fĂŒr seine Reportagen, um so schwer zu fassende geschichtliche Krisenereignisse zu rekonstruieren (oder zumindest bei dem Versuch produktiv zu scheitern). Auch wenn â€șOral Historyâ€č fraglos ein fĂŒr Guiberts Werke hilfreicher Ansatz ist, bleibt fraglich, ob sich die Kategorie â€șOral History Comicsâ€č in der vorgeschlagenen Fassung etablieren wird. Wenngleich die Kategorie stark auf Guibert fokussiert ist, unterlĂ€uft auch dessen Schaffen grundsĂ€tzlich exakte Genregrenzen, indem neben Geschichtsschreibung auch Aspekte der Biografie und Autobiografie im Vordergrund stehen, die ebenso ĂŒber AnsĂ€tze von Koautor_innenschaft erfasst werden können. Dies soll jedoch die Relevanz von Oral History als grundsĂ€tzlich hilfreichem Ansatz nicht schmĂ€lern.

Der konkreten Textanalyse ist eine umfangreiche Darstellung der Geschichte des Verlages L’Association vorangestellt: die hier etablierte BuchĂ€sthetik benennt Egger als wichtige Grundlage fĂŒr Guiberts Werk. Ein weiteres Kapitel stellt ebenso ausfĂŒhrlich Guiberts konkreten Arbeitsprozess dar, der auch im Interview thematisiert wird.

In ihrer durch umfangreiche close readings untermauerten Analyse konzentriert sich Egger in erster Linie auf den Alan-Zyklus, der zunĂ€chst unter narratologischen Gesichtspunkten untersucht wird. Hierbei stĂŒtzt Egger sich vornehmlich auf klassische AnsĂ€tze der ErzĂ€hlforschung von GĂ©rard Genette, Paul Ricoeur und Michail M. Bachtin, deren Fokus auf TemporalitĂ€tsaspekten bzw. DialogizitĂ€t sich aber gut fĂŒr das Thema eignen. Diesen Ansatz verbindet Egger mit den einschlĂ€gigen Überlegungen von Thierry Groensteen und Scott McCloud zur MedialitĂ€t des Comics. Hierbei stellt die Autorin auch immer wieder RĂŒckbezĂŒge zur Geschichte des Comics her, um grundlegende Prinzipien des Mediums zu illustrieren. Der zweite Analyseschwerpunkt adressiert die »Verkörperung« von Erinnerung und stĂŒtzt sich auf die Arbeiten von Hillary Chute und Philippe Marions Konzept der graphiation. Unter diesem Aspekt werden verschiedene Zeichenstile oder der Einsatz von Leerstellen im Comictext untersucht, die sowohl Erinnerung als auch die Absenz von Erinnerung manifestieren. Ein besonderer Fokus lieg hierbei – ganz im Sinne der dialogischen Anlage der Werke – auf der grafischen ReprĂ€sentation der Stimme. Der in Guiberts Werken hĂ€ufig praktizierte Dialog zwischen Comic und Fotografie wird erst im letzten Kapitel und vergleichsweise kurz diskutiert. Vergleichbare rezente Studien wie beispielsweise Golnar Nabizadehs Representation and Memory in Graphic Novels (Routledge 2019) oder Birte Weges Drawing on the Past: Graphic Narrative Documentary (Campus 2019) akzentuieren diesen Aspekt deutlich stĂ€rker. Als Abgrenzung stellt die anderweitige Priorisierung Eggers eine nachvollziehbare Entscheidung dar, wenngleich ein ausfĂŒhrlicherer Dialog mit weiterer Forschung zu Guibert wĂŒnschenswert gewesen wĂ€re.

Der Übergang zwischen Comic und Schrifttext erfolgt sehr charmant durch die Darstellung einer Möbiusband-artigen BrĂŒcke, die verschiedene Avatare der Autorin beschreiten und dabei die Richtung von oben nach unten wechseln. Insgesamt sind es solche visuellen Metaphern und konzeptuellen Bilder, die das Interview enorm bereichern und beispielsweise Guiberts eigene Erinnerungsprozesse darstellen. Neben dem eigentlichen Interview beinhaltet der Comic verschiedene Rahmentexte, in denen die Autorin ihr Erlebnis des GesprĂ€ches thematisiert und ihre Subjektposition als Forscherin nachvollziehbar macht. Diese Möglichkeit zur subjektiven (Selbst-)Reflektion und Interpretation von Guiberts Antworten stellen den Kerngewinn des Comics dar. In den konkreten Darstellungen beider GesprĂ€chspartner_innen im Profil bleibt Guiberts Mimik leider hĂ€ufig opak – eine deutlichere Ausarbeitung hĂ€tte möglicherweise noch mehr Aufschluss geboten, wie spĂ€tere ausfĂŒhrlicher ausgearbeitete Portraits zeigen. Trotz dieses kleinen Wermutstropfens ist die innovative Umsetzung als comicwissenschaftliches Wendebuch eine echte Bereicherung. Comic und Erinnerung ist eine beeindruckend umgesetzte Studie zu einem zentralen Thema nichtfiktionaler Comics, Bettina Egger liefert hiermit gleichsam ein Standardwerk zu Emmanuel Guibert.

Comic und Erinnerung
Oral History im Werk von Emmanuel Guibert
Bettina Julia Egger
Berlin: Christian A. Bachmann Verlag, 2020
248 S. plus 80 Seiten Interview in Comicform, 29,90 Euro
ISBN 978-3-96234-013-1

 

 

1] Der Kernteil des Interviews wurde zunĂ€chst in einer französischen Fassung unter dem Title Entretien avec Emmanuel Guibert im Verlag Éditions Jarjille veröffentlicht.