Zu zweit ist man weniger allein?

EGOn rezensiert von Markus Oppolzer

Dominik Wendlands EGOn ist eine faszinierende Comicerzählung, die nicht nur als Parabel auf unsere Zeit zu verstehen ist, sondern grundsätzliche Probleme menschlicher Existenz auslotet. Wer sich auf die ungewöhnliche Bildsprache einlässt, wird belohnt.

Bereits das Cover von Dominik Wendlands Comic EGOn (2019) lässt keine Zweifel darüber aufkommen, ob es sich hier um eine fotorealistische Inszenierung einer postapokalyptischen Zukunft handeln könnte: die narrativen Mittel und Elemente haben überwiegend metaphorische, symbolische und allegorische Bedeutung. Wie bei Alfonso Cuaróns Gravity (2013) entlehnt Wendland dem Science Fiction Genre Versatzstücke, die aber hauptsächlich einer Externalisierung innerer Befindlichkeiten dienen. Die Technologien dieser Welt erschließen sich kaum und viele (scheinbar) relevanten Aspekte werden spät oder gar nicht erklärt. Folglich fühlen sich Leser_innen unvermittelt in eine verquere Welt versetzt, in der sie sich erst zurechtfinden müssen. Dies erinnert ein wenig an Shaun Tans Strategie in Ein neues Land (2008), wo die Schwierigkeiten des Protagonisten sich in der Fremde zu verständigen für die Leser_innen insofern simuliert werden, als die wortlose Erzählung und die visuelle Symbolik den Zugang zum Text erschweren und genaues Hinsehen erfordern.

Egons Fragen sind existentialistischer Natur. Er fühlt sich in eine Welt geworfen, deren äußere, materielle Logik er versteht, mit deren innerer bzw. metaphysischer Beschaffenheit er aber hadert. In gewisser Weise stellt er ein Relikt aus einer anderen Zeit dar und hält wie ein Mönch an Traditionen fest, die gesellschaftlich an Bedeutung verloren haben. Während er die Emoticons seiner Mitmenschen aus einer geradezu wissenschaftlichen Perspektive studiert und deren Piktogramme in einer ›Emojilex‹, aber auch ›Emotikonkon‹ benannten Datenbank sammelt, versteht er diese Umgangssprache nicht ausreichend. Aus Sicht der modernen Welt wirkt er wie ein kultureller Analphabet, weil er den Schritt vom Informationszeitalter zum ›Emotionszeitalter‹ nicht mitvollzogen hat. Wie ein Sohn aus gutem Hause, der nicht mit anderen Kindern spielen durfte, oder ein Künstler, der über den Dingen steht, hat er den Anschluss an die Massenkultur verpasst. Zusätzlich ist er auch noch physisch in einem unterirdischen Bunker gefangen, der ihm das Überleben sichert. Die Erdoberfläche wurde nämlich von einem gewaltigen Meteoriteneinschlag verwüstet und die Menschheit vegetiert seitdem in verstreuten subterranen Behausungen vor sich hin. Das scheinbar noch intakte Internet ist das globale Dorf der Zukunft, wo sich Menschen sozial begegnen. Gegenstände und Nahrung kommen aus dem 3D Drucker.

Abb. 1: Fragen der Identität.

Egons soziale Kontakte sind fast ausschließlich auf seinen digitalen Assistenten und Begleiter Doggo reduziert, der als Projektion im Raum schwebt, aber im Endeffekt nur eine fortgeschrittene Version eines interaktiven Betriebssystems ist. Die Dialoge wirken manchmal banal und formelhaft. Egon scheint sprachlich in seiner Kindheit stecken geblieben zu sein, da er kaum Gelegenheit für tiefgründige Konversationen hat und somit auch an der Verbalisierung seiner Befindlichkeiten scheitert. Innerhalb seiner eigenen Blase fühlt er sich jedoch sicher, wo er mit Doggo das tägliche Wortgeplänkel pflegt. Hier tut sich eine Kluft zwischen Diskurs und Realität auf, die sich in anderen Bereichen ebenfalls feststellen lässt, z.B. zwischen Erscheinungsbild/Oberfläche und Identität/Inhalt, aber auch zwischen unterschiedlichen Realitätsebenen, die eigentlich unvereinbar sind und trotzdem koexistieren.

Die Erzählung beginnt mit Egons Umsetzung eines längeren Projekts, nämlich seine eigenen Denkmuster in die Schaltkreise eines Androiden zu übertragen, was diesem ›ein Grundverständnis der Realität‹ verschaffen soll. Diese Prämisse erweist sich schnell als absurd, da Egon sich weigert die existentialistischen Fragen, die dessen Programmierung aufwirft, zu beantworten. In Kapitel 2 erklärt der Schöpfer seiner Kreatur, dass sie sich völlig frei entwickeln soll, ganz ohne Indoktrination. Diese Entscheidung wird verständlicher, wenn man eine weitere Dialogszene (Kapitel 5) berücksichtigt und die beiden Gespräche direkt vergleicht. Generell lädt der Text durch Wiederholungen, Überblendungen, Spiegelungen, Fragmentierungen und Rekombinationen dazu ein, die präsentierten Elemente zu vergleichen und miteinander in Beziehung zu setzen.

Der Titel des Buches beinhaltet ein Wortspiel, da der Name des Protagonisten als mathematische Formel verschriftlicht ist: EGOn. Egon2 ist somit das Alter Ego des Protagonisten, ein Umstand, der bereits im Titelbild angedeutet und immer wieder aufgegriffen wird. Egon1 hat seinen Zwilling in einen Kugelkörper gesteckt, eine perfekte geometrische Figur, die nicht nur sehr gut in Platons Ideenhimmel passt, sondern auch in seinem Symposion (Gastmahl) eine Rolle spielt, wo der Komödiendichter Aristophanes das Gleichnis von den Kugelmenschen erzählt. Hier jedoch stellt die Kugelform und die unnötige Größe der Kreatur ein wahres Hindernis dar die Welt selbständig zu erforschen. Die Eiform mag zwar perfekt sein, aber daraus muss erst noch ein Lebewesen schlüpfen.

Egon2 ist dabei nicht ein direkter Klon seines Schöpfers. Er stellt einen Neubeginn dar, eine Tabula Rasa, die ein Was-wäre-wenn Szenario eröffnet. Nachdem sich Egon1 weigert, dessen Erziehung zu übernehmen, entwickelt sich sein Alter Ego schnell zum Autodidakten. Diese für sich reklamierte Freiheit und Selbstbestimmung irritieren aber Egon1 zutiefst, der seine eigenen Zwänge nicht so leicht abschütteln kann. Während er einen Ausbruch aus dem Korsett seiner Lebensumstände herbeizusehnen scheint, überfordert ihn die konkrete Realisierung dieser Wunschvorstellung.

EGOn ist ein spannendes Buch, auf das man sich aber einlassen muss. Eine klare Leseempfehlung gibt es für Personen, die stark metaphorische Texte, wie z.B. David Mazzucchellis Asterios Polyp, mögen.

 

EGOn
Dominik Wendland
Berlin: Jaja Verlag, 2019
140 S., 18,00 Euro
ISBN 978-3-946642-71-8