Don’t know much about herstory?

Drawn to Purpose. American Women Illustrators and Cartoonists rezensiert von Barbara M. Eggert

Ist es im Jahr 2018 anachronistisch, in einem Ausstellungskatalog über Illustrationen und Cartoons aus den letzten 150 Jahren ausschließlich Künstlerinnen zu dokumentieren? Nein, leider nicht. Denn immer noch sind auch auf diesem Gebiet entscheidende Beiträge von Frauen nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert. Die Publikation von Martha H. Kennedy schafft anhand von Beispielen aus den grafischen Sammlungen der Library of Congress Abhilfe und rückt Illustratorinnen und Cartoonistinnen aus Nordamerika und Canada ins verdiente Rampenlicht.

Ausstellungen und Kataloge sind wesentliche Faktoren, wenn es darum geht, kunstschaffenden Personen ihren öffentlichen Rang in der Geschichte einer Kunstgattung zuzuweisen. Beide Medien prägen insbesondere die bildungsbürgerliche Wahrnehmung, sie filtern, sorgen für Visibilität und in Folge dessen für Kanonisierung, Wertschätzung und Marktwertsteigerung einiger weniger – meist männlicher – Kunstschaffender. Was nicht perpetuierend gezeigt, dokumentiert und rezensiert wird, existiert für einen großen Teil der Öffentlichkeit nicht. Die Ausdrucksformen Illustration, Comic und Cartoon bilden hier keine Ausnahme. Auch im 21. Jahrhundert sind z. B. Beiträge von Frauen in Übersichtsausstellungen oft unterrepräsentiert und zementieren somit ein zu einseitiges Bild in Bezug auf Akteur_innen in den grafischen Künsten. Keine Ausnahme ist hier die sechsbändige Begleitpublikation zur Ausstellung Comics! Mangas! Graphic Novels!, die 2017 in der Bonner Bundeskunsthalle gezeigt wurde. Der Teilband 5 (Bundeskunsthalle (Hg.): Comics! Mangas! Graphic Novels!, Bd. 5: Underground & Independent. Bonn: Bundeskunsthalle, 2017) enthält einen Aufsatz von Andreas Knigge mit insgesamt 30 Bildbeispielen. Nur eines stammt von einer Frau. Es handelt sich hierbei um Seite 1 des Comics One Flower Child’s Search for Love, eine Tuschezeichnung von Trina Robbins aus dem Jahr 1973 für die von ihr mit herausgegebenen Heftserie Wimmen’s Comix. Robbins selbst hat sich schon früh als ›herstorian‹ für die Visibilität von Comiczeichnerinnen engagiert: Publikationen wie das mit Catherine Yronwode verfasste Buch Women and the Comics (New York: Eclipse Books, 1985), A Century of Women Cartoonists (Northampton: Kitchen Sink, 1993) und Pretty in Ink. North American Women Cartoonists, 1896–2013 (Seattle: Fantagraphics Books, 2013) sind nur einige Belege für ihre feministische Comicgeschichtsforschung. Für ihre Recherchen kann sich die Comichistorikerin auch auf ihre umfassende Sammlung stützen. Einblicke in diese gewährte sie zuletzt in der mit Kim Munson kuratierten Ausstellung Women in Comics: Looking Forward and Back in der Society of Illustrators in New York (März bis Oktober 2020), zu der bedauerlicherweise kein Katalog erschienen ist. Umfangreich dokumentiert hingegen ist die von Martha A. Kennedy kuratierte Ausstellung Drawn to Purpose. American Women Illustrators and Cartoonists, die von November 2017 bis Oktober 2018 in den Räumen der Library of Congress (LOC) gezeigt wurde – und sorgt somit für dauerhafte Visibilitätssicherung. Während die Schau 73 Werke von insgesamt 43 Künstlerinnen aus den Sammlungsbeständen der LOC vereinte, präsentiert die Kuratorin im hier zu rezensierenden Katalog das Schaffen von insgesamt 142 Frauen, die in den von Kennedy als Schwesterkünsten deklarierten Bereichen Illustration und Cartoon/Comic bemerkenswerte Beiträge leisteten. Die soziohistorisch kontextualisierte Zusammenschau ermöglicht viele Querverbindungen – auch über das hinaus, was bereits im solide recherchierten Text zu finden ist.

Im ersten der sechs Kapitel widmet sich Kennedy dem Zeitabschnitt von 1880 bis 1930, dem Goldenen Zeitalter der Illustration (S. 3–26) und fokussiert hier neben Stars wie Mary Hallock Foote (1847–1938) und Alice Barber Stephens (1858–1932) auch das Schaffen von Elizabeth Shippen Green (1871–1954), Jessie Willcox Smith (1863–1936), und Violet Oakley (1874–1961), die als Mitglieder des Künstlerinnenkollektivs The Red Rose Girls bekannt wurden. Kapitel zwei und drei sind der Geschichte des Comics gewidmet: Hier thematisiert Kennedy u. a. am Beispiel des zuckersüßen Kinder- und Katzenkosmos von Grace Drayton (1877–1936) und der glamourösen Reporterin Brenda Starr, einer Schöpfung von Dale Messick (1906–2005), das kontrast- und facettenreiche Schaffen von Pionierinnen der 1930er und 1940er Jahre (S. 27–46). Im Folgekapitel schlägt die Autorin den Bogen von den Underground Comics der 1960er und 1970er Jahre zu aktuellen Comicstrips und Graphic Novels (S. 47–76). Diversity in Bezug auf Gender, Sexualität und race sind Kennedy in allen Kapiteln ein Anliegen. Bei den zeitgenössischen Comics wird dies durch die Integration von Alison Bechdel (*1960) mit Dykes to Watch Out For und Barbara Brandon-Croft (1958) mit Where I’m Coming From deutlich. Bei den Beispielen der nächsten Generation, vertreten durch This One Summer (2013) von Mariko (*1975) und Jillian Tamaki (*1980) sowie Smile (2010) von Raina Telgemeier (*1977), dominiert das Thema coming of age mit jungen Mädchen als Zielgruppe. Disabilty/graphic medicine/sicklit hingegen bleiben ausgeklammert – doch erzielen diese auch bei der Schlagwortsuche im digitalen Katalog der LOC keine Treffer (Stand: 26. August 2020), weswegen es sich hier um eine Lücke in der Sammlung (oder in der Verschlagwortung) handeln könnte. Nach einem (zu) kurzen Exkurs zu Zeichnungen im Kontext von Architektur und Design (S. 77–82) wendet sich Kennedy schließlich herausragenden Vertreterinnen der künstlerischen Bildreportage wie Bernarda Bryson Shahn (1903–2004) und Sue Coe (*1951) sowie der Gerichtszeichnung zu (S. 83–108). Hierauf folgt ein Kapitel zu Coverillustrationen und Cartoons (S. 109–136). Schwerpunkte bilden hier Titelblätter für Puck, Masses und Vanity Vair aus dem frühen 20. Jahrhundert und Cartoons aus dem New Yorker von Helena Hokinson (1893–1949) bis hin zu Roz Chast (*1954) und Maira Kalman (*1949). Das letzte Kapitel ist Zeichnerinnen unterschiedlicher politischer Couleur auf dem Gebiet der (politischen) Karikatur gewidmet (S. 137–164). Beiträge von Edwina Dumm (1903–1990) bis Jen Sorensen (*1974) markieren hier die Enden der Zeitleiste. Biographische Skizzen runden die Publikation ab. Die Angaben zu den aus soziologischer Sicht durchaus relevanten familiären Hintergründen sind leider recht uneinheitlich gestaltet, was die Nennung von Familienmitgliedern und deren Berufen anbelangt.

Die Druckqualität der über 250 Farbillustrationen ist äußerst zufriedenstellend – die forschungsfreundlich gestalteten Angaben im Anhang ermöglichen zudem ein unkompliziertes Auffinden der Bilder in der digitalen Bilddatenbank der LOC für weitergehende Forschung. Zu eben dieser will der Katalog anregen – und legt erfolgreich viele Fährten hierfür aus. Ebenso wie der von Nicola Streeten und Cath Tate herausgegebene Band The Inking Woman. 250 years of Women Cartoon and Comic Artists in Britain (Oxford: Myriad Editions, 2018) ist die Publikation von Kennedy eine große Bereicherung für die (sozio-)historische Comicforschung, setzt wichtige Impulse und korrigiert das Klischee von Comic und Cartoon als Männerdomänen.

 

Drawn to Purpose
American Women Illustrators and Cartoonists
Martha H. Kennedy
Jackson: University Press of Mississippi in Kooperation mit der Library of Congress, 2018
255 S., 41,72 Euro
ISBN 978-1-4968-1592-7