Eine poetische Sci-Fi-Apokalypse in drei Farben

Dämmerung rezensiert von Hannah Bittner

»Die Dämmerung … / … war für mich schon immer etwas besonderes. Furchteinflössend.« stellt ein Roboter beim Anblick des aufgehenden Sternenhimmels fest. Etwas besonderes ist er, dieser Comic und furchteinflößend kann er sein, ganz besonders im Nachgang, wenn der Hippocampus noch Tage später nicht aufhören mag, über das selbstverantwortete Chaos der Menschen zu sinnieren.

Abb. 1: Perrodeau: Dämmerung, S. 32.

Die Zukunft ist kühn. Der Mensch bewegt sich durch das Weltall, als wäre es sein natürliches Habitat. Androiden arbeiten, kaum unterscheidbar von ihren menschlichen Schöpfern, an seiner Seite. In klassischer Sci-Fi Manier ist die Technologie in dieser Zukunftsvision so weit entwickelt, dass sie für eine Leserschaft aus dem Jahre 2020 wie Zauberei aussieht. Genauer: wie göttliche Allmacht. Das Team der »Grand Central« nutzt die Errungenschaften der Technik im großen Stil und macht einen ganzen Planeten zur Petrischale der Evolution.

Dieses Unterfangen entpuppt sich als nicht unproblematisch und der von Neugier getriebene Mensch verliert die Kontrolle: Eine rätselhafte physikalische Anomalie dekonstruiert die künstlich geschaffene Biosphäre auf allen Ebenen: zunächst die geografische Struktur, dann Pflanzen und Tiere, schließlich die physikalischen Gesetze und sogar die Zeit gerät aus den Fugen.

Bei dem Versuch, die Ursache der ausufernden Anomalie zu finden, verschwindet der Parkwächter Lincoln. Die sich anschließende Suche und die Geschichte um den Suchtrupp fühlt sich stellenweise an wie ein erzählerischer Vorwand, denn der Fokus liegt nicht auf menschlichen oder androiden Schicksalen. Die meisten Lebewesen haben keine Mimik, noch nicht einmal ein Gesicht und wirken daher kühl und unnahbar. Mit einer göttlich-poetischen Gleichgültigkeit folgen wir dem Geschehen aus der Distanz und finden dabei langsam heraus, was das Chaos in der künstlich angelegten Biosphäre ausgelöst hat.

Dämmerung kommt mit so wenig geschriebener Sprache aus. Die stark stilisierten, betont grafischen Zeichnungen und die Anonymität der Figuren unterstreichen das Thema der künstlich geschaffenen Welt. Die minimalistische Harmonie, in der die Seiten angeordnet sind und die zu großen Teilen verantwortlich für das Lesevergnügen ist, steht in direktem Widerspruch zum Chaos der Handlung.

Abb. 1: Perrodeau: Dämmerung, S. 75.

Der gesamte Comic ist in drei Farben gehalten, die die Erzählung semantisch in drei Zeitstränge und drei Dimensionen gliedern. Das zurückhaltende Storytelling fordert dazu auf, die Bilder aufmerksam zu entschlüsseln und mögliche Leerstellen zu füllen. Das führt dazu, dass dieser Comic ganz wunderbar mehrmals gelesen werden kann.

Die Dämmerung ist der Übergang zwischen Tag und Nacht, ein Zwielicht, eine furchteinflößende Phase des Umbruchs. Dämmerung trifft zielsicher zwischen die Augen einer Gesellschaft, die sich bewusst wird, dass technischer Fortschritt im letzten Jahrhundert in der Regel auf Kosten der Natur stattfand, dass die Dimensionen aus dem Gleichgewicht geraten sind und der chaotische Umbruch, gemessen an der Länger der Geschichte der Evolution, kurz bevor stehen könnte.

Dämmerung adressiert die ganz großen Themen unserer Zeit, zum Glück ohne den mahnenden Zeigefinger zu heben. Wer sich dem gewachsen fühlt und sich gerne Zeit für die Lektüre lässt, wird mit Dämmerung große Freude haben. Die Reise, auf die Jérémy Perrodeau die LeserIn schickt, wird zu einer poetischen Apokalypse in drei Farben (70f.), die zu Recht die Dimensionen sprengt.

 

Dämmerung
Jérémy Perrodeau
Zürich: Edition Moderne, 2020
125 S., 32,00 Euro
ISBN 978-3-03731-197-4