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(Frauen-)Körper und gleichgeschlechtliches Begehren als Politikum im polnischen alternativen Comic

Kalina Kupczyńska (Łódź)


Präfigurationen: Ausradierung, Markierung

2018 wurde im Warschauer Museum für Moderne Kunst eine Ausstellung mit dem Titel Die Unabhängigen – Frauen und der Nationaldiskurs gezeigt. Der Anlass war ein Jubiläum: hundert Jahre Unabhängigkeit Polens. Einige konzeptuelle Entscheidungen der Kuratorin Magda Lipska können als wegweisend für einen neuen Umgang mit der Geschichtsschreibung verstanden werden: Die Repräsentationen der Unabhängigkeitskämpfe bekamen eine Gender-Perspektive und gingen weit über die Grenzen Polens hinaus, als wichtige Kulminationsmomente waren globale Dekolonisierungsbewegungen und die politische Wende 1989 zu erkennen. Nicht die traditionell weiblich symbolisierte Unabhängigkeit Polens stand im Vordergrund, sondern die Handlungsmacht von in traditionellen historischen Narrationen marginalisierten Frauen u. a. aus Chile, Französisch-Guyana, Kroatien, Nigeria, Spanien, Vietnam und Zimbabwe. Die Ausstellung machte deutlich, dass sich sowohl in den historischen Allegorien der Nationen als auch in den weit verbreiteten Verfahren einer Vernachlässigung, ja Ausradierung von Frauen aus den großen nationalen Gründungserzählungen länderübergreifend Parallelen erkennen lassen. Dem gegenüber wurde ein gegenderter Blick als empowering und zugleich als ein Code der Solidarität präsentiert. Aus der Vielzahl der in der Ausstellung eingesetzten künstlerischen Verfahren möchte ich zwei nennen, die sich auch in den von mir analysierten Comics finden lassen. Es handelt sich erstens um die Sichtbarmachung der Tilgung von Frauen aus der Historiografie und damit auch aus der ikonischen Sphäre des kollektiven Gedächtnisses, und zweitens um Überzeichnungen und Verfremdungen beim Entwurf phantasmatischer Körper. Dies möchte ich an zwei Exponaten der Ausstellung verdeutlichen.

        

Abb. 1: Ikonische Ausradierung: Solidarność-Plakat für die ersten freien Wahlen 1989. / Abb. 2: Re-Kontextualisierung des Solidarność-Plakats von Sanja Iveković 2009.

Im ersten Beispiel handelt es sich um zwei Überarbeitungen eines Solidarność-Plakats, das kurz vor den ersten freien Wahlen, Anfang Juni 1989, vom Kunststudenten Tomasz Sarnecki entworfen wurde. Der Titel der ersten Version – W samo południe [Zwölf Uhr mittags] – und die Ikonografie verweisen unmissverständlich auf die amerikanische Popkultur, Gary Cooper sollte hier das universelle Ideal des Gerechten verkörpern (Świeszewski 2019). (Abb. 1) Dass das Plakat international als eine Ikone der ersten freien Wahlen galt, bezeugt auch das Interesse, das ihm die kroatische Künstlerin Sanja Iveković 2009 entgegenbrachte; 20 Jahre nach der Entstehung des Plakats erschien ihre Re-Kontextualisierung mit dem Titel Niewidzialne kobiety Solidarności [Invisible Women of Solidarity] (Abb. 2). Geändert hat sich nicht nur die Silhouette des ›Gerechten‹, sondern auch der materielle Charakter der Arbeit: Bei Iveković schreitet die mit schwarzer Farbe ausgefüllte Silhouette der weiblichen Figur in einer weiß leuchtenden Box, die auf diese Weise Straßenwerbung evoziert und damit die Botschaft auch medial aktualisiert. Im selben Jahr erfuhr das Plakat eine weitere Überarbeitung – die polnische Künstlerin Zuzanna Janin setzte beide Gestalten zusammen, vereinte damit die Ideen von Sarnecki und Iveković und machte deutlich, dass in der Gewerkschaftsbewegung Männer wie Frauen politisch kämpften. In einem Pressekommentar fragte Janin rhetorisch: »Wollen wir nicht ein modernes Land sein, in dem die Erinnerung nicht monopolisiert wird, wo es für jeden Platz gibt und wo alle geachtet werden?« (Janin 2013). Janins Beitrag zur Ausstellung Die Unabhängigen war eine Fotocollage Wajda. Wałęsa. Ossowska, bestehend aus zwei bearbeiteten Fotoaufnahmen eines historischen Moments in der Geschichte der Solidarność-Bewegung: Am 16. August 1980 verkündete Lech Wałęsa, dass der Streik in der Danziger Werft fortgesetzt wird. Die Entscheidung ist drei Frauen, u.a. Ewa Ossowska zu verdanken, die auf einer Fotoaufnahme neben Wałęsa steht. Die Künstlerin verwendet die historische Fotoaufnahme und ein Standfoto aus dem Film von Andrzej Wajda WAŁĘSA: MAN OF HOPE (Polen, 2013) um zu zeigen, wie der Regisseur die gängige Praxis der Tilgung der Frauen aus der historischen Narration perpetuierte – in Wajdas Film ist neben Wałęsa  ein anderer Mann zu sehen.

Abb. 3: Zbigniew Liberas Markierung von (Frauen)Körper im patriotisch-katholischen Kontext.

Mein zweites Beispiel ist eine Arbeit des polnischen Konzeptkünstlers Zbigniew Libera, Śmierć patrioty [Tod des Patrioten] von 2016 (Abb. 3). Die Beschreibung auf der Homepage des Museums erkennt in dem Foto Anspielungen auf Darstellungen der christlichen Kunst wie Kreuzabnahme oder Grablegung,1 was in Verbindung mit dem Titel die im polnischen nationalen Diskurs forcierte Korrelation zwischen katholischem Glauben und Patriotismus auf den Plan ruft. Die nackten, tätowierten Frauen in der Rolle der Peiniger sind eine Umkehrung der tradierten Ordnung und erscheinen als eine düstere, archaisch anmutende Bedrohung des männlichen ›Patrioten‹. Die voyeuristische Grundkonstellation legt außerdem durch das framing eine zusätzliche Deutungsebene nahe, die das Skandalon der Szene – das entblößte Geschlecht der Christus/Patrioten-Figur, die Aktivität der Frauen – herausstellt, zumal der Blick des filmenden Voyeurs verrät, dass sich dieser beobachtet bzw. ertappt fühlt. Die suggerierte Beteiligung der Frauen am möglichen Mord des ›Patrioten‹ und ihre (bedrohliche) Nacktheit, die das Zentrum des Fotos bilden, evozieren hier das Phänomen des phantasmatischen Körpers, welches im Folgenden in der Analyse ausgewählter Comics näher charakterisiert wird.

Körper / Gender / Nation

Welches Reizpotential die Verbindung von Gender und Nation in der polnischen Öffentlichkeit hat, zeigte sich an der Reaktion der Gewerkschaft Solidarność, nachdem das Plakat Die unsichtbaren Frauen von Solidarność von Iveković während des sog. schwarzen Protestes gegen eine radikale Verschärfung des Abtreibungsgesetzes im Jahr 2016 verwendet wurde: Die Gewerkschaft erstattete Anzeige wegen der rechtswidrigen Verwendung ihres Logos (Sienkiewicz 2016). Dies ist eines von vielen Beispielen einer Überwachung der symbolischen – und: als national verstandenen – Sphäre, die sich u.a. im ‚Schutz‘ der Öffentlichkeit vor genderpolitisch relevanten Umdeutungen niederschlägt. Die in Polen vorherrschende nationale Idee eines engen Zusammenhangs zwischen ethnischer Gemeinschaft und gemeinsamer Tradition schließt, nicht anders als die gängigen Nationalismus-Theorien, Pluralität, auch mit Blick auf Gender-Aspekte, weitgehend aus.2 Diese Exklusion wird durch die Verwendung von Frauenfiguren in den symbolischen Darstellungen kaschiert: die Nation wird auch in Polen als Frau repräsentiert (Machanda/de Haan 2018, 81). So dient etwa das Ideal der Mutter-Polin (Matka Polka) der Konstruktion und Aufrechterhaltung einer Frauenidentität, die auf »Selbstopfer, Gefühlsbetontheit und Liebenswürdigkeit«3 basiert. Die Folge einer solchen Konstruktion fasst Suruchi Thapar-Björkert zusammen:

When women are accorded the symbolic roles as mothers of the nation, the intersections of sexual purity and national honor politicize both the public and domestic-familial domains – the events in one domain reflect on the other. (Thapar-Björkert 2013, 812)

In ihrer Funktion als Ehefrauen und Mütter werden Frauen zu »bearers of masculine honor« (Thapar-Björkert 2013, 812), »the family, nationhood and manhood (are) politicised and associated with national imagery« (Nagel 1998, 249). Die Dichotomisierung der gesellschaftlichen Aktivitätsbereiche – die öffentliche Sphäre als dem Mann, die private Sphäre als der Frau vorbehalten (vgl. Yuval-Davis 1997, 6) – verfestigt diese traditionelle symbolische Konstruktion. Die Ethnografin und Anthropologin Ewa Hauser weist auf die Spannungen zwischen einem traditionellen polnischen Patriotismus und Gender-Fragen hin, die sich in widersprüchlichen Äußerungen und Überzeugungen niederschlagen. In einer Studie aus den 1990er Jahren konstatiert sie, dass »die neuen politischen Machthaber die Legitimität des Nationalismus von der ›natürlichen‹ Ordnung der religiösen [sprich: katholischen; K. K.] Wertvorstellungen ableiten«,4 was auch heute, 25 Jahre später, nichts an Aktualität eingebüßt hat. Hauser betont die Rolle der katholischen Kirche für die Aufrechterhaltung des symbolischen Regimes: »it reinforces the equation between Polish men and catholic knights and Polish women and the Mother of God« (Hauser 1995, 81). In solch einem politischen Imaginären ist die von Mickiewicz literarisch konstruierte ideale Polin Emilia Plater zu verorten, eine als Soldat verkleidete Offizierin, die im November-Aufstand 1831 fiel. Plater ist eine historische Figur, die ihre beinahe mythische Position de facto dem Queering von Geschlechterrollen verdankt, was im polnischen kollektiven Bewusstsein jedoch zugunsten der patriotischen Leistung ausgeblendet wird. Die gängige Stilisierung Platers als polnische Jeanne d’Arc marginalisiert ihr Spiel mit Gender-Kategorien und verfestigt eine unreflektierte Sicht auf das patriotische Heldentum. Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive ist der Fall von Emilia Plater deswegen interessant, weil er die patriarchale Verschränkung von Körper, Gender und Nation ausstellt: Eine Soldatin – in den polnischen nationalen Aufständen keine Seltenheit – wird zur Heldin durch eine vom Nationaldichter konstruierten Narration, die eindeutig einer heterosexuellen Matrix entspricht: In Mickiewiczs Gedicht Der Tod des Obersten wird die letzte Stunde des titelgebenden Oberst geschildert, der sich in den letzten Zeilen – durch Entblößung der »weißen Brust« (Mickiewicz 1998, 347) – nicht nur als Frau, nämlich Emilia Plater, erweist, sondern auch sexualisiert wird.

Ähnliche Vereinnahmungen ziehen sich durch die polnische Historiografie und Literaturgeschichte; die Ausblendung der Frauen aus historischen Narrationen wird auch im polnischen Comic behandelt (vgl. Kupczynska 2014). In den letzten Jahren nimmt allerdings im Comic auch die Aufmerksamkeit für das Leben von LGBTQ-Menschen zu – nicht zuletzt als Reaktion auf die Diskriminierungspolitik der aktuellen Regierung. Um den Mechanismus der Ausgrenzung dieser Gruppe zu erfassen, kann das psychoanalytisch geprägte Konzept des Abjekten von Julia Kristeva hilfreich sein. Kristeva bezeichnet das Abjekte als etwas, das »Identität, System, Ordnung stört«, Grenzen – auch körperlicher Art – überschreitet und schwer kontrollierbare Reaktionen wie Abscheu und Ekel provoziert. Gleichzeitig besitzt es eine gewisse unterschwellige Anziehungskraft und Faszination, die die Stabilität des Subjekts bedroht und deshalb besonders entschiedene Abwehr zu erfordern scheint.5 Abjekt ist demnach »[i]maginary uncanniness and real threat, it beckons to us and ends up engulfing us« (Kristeva 1982, 4).

Bezieht man Kristevas Auffassung von Abjektion auf soziale Strukturen, wie es die Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young tut, so kann dies nichtrationale, unbewusste Ängste und Abneigungsaffekte gegenüber bestimmten sozialen Gruppen erklären. Young schreibt:

Racism, sexism, homophobia, ageism, and ableism, are partly structured by abjection, an involuntary, unconscious judgement of ugliness and loathing. The account does not explain how some groups become culturally defined as ugly and despised bodies. The symbolic association of some people and groups with death and degeneracy must in every case be explained socially and historically, and is historically variable. (Young 2011, 145)

Im Fall der Soldatin Emilia Plater – in deren Biografie sich übrigens homoerotische Indizien finden lassen – wirkt die ins Mythische übertragene und heteronormative literarische Darstellung als ein gängiges Schema der gezähmten Abjektion. Im Zug der rechten Radikalisierung des konservativen politischen Lagers in Polen, zu deren Folgen etwa die Etablierung von »LGBT-freien Zonen« in der polnischen Provinz gehören, bekommt die Abjektion greifbare Formen, die in der linksliberalen Kulturszene, unter anderem im Comic, diskursiviert und visualisiert werden.

Der unlesbare queere Körper

Abb. 4: Die »sichtbar-unsichtbare« Superprocenta

von Beata Sosnowska.

 

In einer 2017 geführten Diskussion unter feministischen Aktivistinnen und Künstlerinnen mit dem Titel Von der lesbischen Konspiration zur lesbischen Inspiration6 bildete die Unsichtbarkeit lesbischer Frauen den thematischen Mittelpunkt und einen Auslöser für die Formulierung eines Manifestes mit dem Titel Lesbijska Inspira (etwa: Lesbische Inspiration). »Warum werden die lesbische Kultur und der lesbische Aktivismus nach wie vor in den Schatten gedrängt?«7, fragten die Diskutantinnen. Zum einen verwiesen sie auf die marginalisierende Funktion des Mainstreams bzw. des cultural imperialism. Zum anderen nannten sie als Ursache der ›Unsichtbarkeit‹ ihre noch unabgeschlossene Suche nach neuen ästhetischen Darstellungsweisen. Ein Kurzcomic, der die Diskussion und das daran anschließende Manifest begleitete, visualisiert die Antwort auf die Frage mit der Figur von Superprocenta (Die Superprozentige, Abb. 4). Superprocenta richtet sich direkt an die Betrachtenden: »Wie oft hast du gehört, dass es dich nicht gibt, weil du lesbisch bist? Sehe ich so aus, als wäre ich unsichtbar?« (Sosnowska 2017).

In den weiteren Panels bezeugt sie durch wiederholtes Auftreten im öffentlichen Raum ihre Sichtbarkeit: Man sieht sie auf einer Regenbogenparade, in der Straßenbahn, im Supermarkt, bei einem Neonazi-Treffen (im Blocktext heißt es dazu: »Ich bin selbst da, wo ich nicht sein sollte!«) (Abb. 5). Zugleich thematisiert sie sich selbst als gezeichnete Figur, wenn sie erzählt, dass sie beinahe verschwunden wäre, weil sie sogar für ein Plakat für eine LGBT-Aktion zu lesbisch gewesen sei, denn mit ihrem Aussehen würde sie »die stereotypen Darstellungen verfestigen« (Abb. 6).

Abb. 5 und 6: Superprocenta und die lesbische (Un)Sichtbarkeit.

Auch Terry Castle stellt in ihrem Buch The Apparitional Lesbian: Female Homosexuality in Modern Culture die Frage: »Why is it so difficult to see the lesbian – even when she is there, quite plainly, in front of us? In part because she has been ›ghosted‹ – or made to seem invisible – by culture itself« (Castle 1993, 4). Diese Unsichtbarkeit trifft und betrifft die Körper lesbischer Frauen (zumindest im polnischen Kontext) doppelt: da sich die Darstellung von Lesbierinnen in der Mainstream-Kultur vor allem auf den Typus ›femme‹ bezieht, der als repräsentativ und repräsentierbar erscheint, ›verschwinden‹ die Körper diverser lesbischer Frauen durch diese Vereindeutigung und Vereinnahmung. Der Gegenpart von ›femme‹, die ›butch‹ Frau, wird dagegen wegen ihrer betonten ›Unweiblichkeit‹ unsichtbar gemacht: »the butch, unlike the femme, is not consumable« (Ciasullo 2011, 339). Zugleich bedeutet ›butch‹ eine Bedrohung für die männliche Vormacht, allein weil sie ›männlich‹ aussieht bzw. auftritt.8 Hier liegt ihr Potential, auch im Kontext des Zusammenhangs von Körper, Gender und Nation: Beata Sosnowska, die Autorin von Superprocenta, lässt ihre Figur in einem kurzen Comic Patriotyzm [Patriotismus] gegen nationalgesinnte xeno- und homophobe Männer auftreten (Abb. 7).

Abb. 7: Superprocentas Patriotismus gegen Xenophobie

und Nationalismus.

 

Der butch-Körper, für die phallozentrische Mainstream-Kultur »unbrauchbar«9, verletzt hier die kulturellen und nationalen Codes in mehrfacher Hinsicht: Superprocenta revoltiert als ausländische Frau gegen die männlich besetzte ›patriotische‹ Ordnung, indem sie polnische rassistische »Patrioten« mit ihrer Superkraft nach Großbritannien versetzt, sie revoltiert als eine lesbische Frau, die es eigentlich im ›gesunden Körper der Nation‹ nicht geben darf, sie revoltiert in einem Frauenkörper, der die Männlichkeit verunsichert, und sie revoltiert in einem popkulturell männlich kodierten Super-Körper. Ihr Name – die Superprozentige – ist Programm, das zugleich teilweise ihre Ablehnung in polnischen LGBTQ-Kreisen erklärt.Superprocenta ist eine Transgressionsfigur, die die Schranken der Unsichtbarkeit vielfach bricht; ihre Erscheinung wurde, anders als etwa in der US-amerikanischen queeren Comickultur, nicht durch jahrzehntelang veröffentlichte autobiografische Comicstrips über das lesbische Leben wie Alison Bechdels Dykes to Watch Out For vorbereitet. Bechdels Anliegen war nicht anders als das Sosnowskas »to make lesbians more visible, not just to ourselves, but to everyone« (Bechdel 2009, xv) (Abb. 8 ). In Polen gibt es bis dato keine ähnlichen konfessionellen Comic-Autobiografien, was an sozioökonomischen wie auch kulturellen Unterschieden zwischen den USA und Polen liegt, aber auch am unterschiedlichen Status des Mediums Comic in beiden Ländern.10

Das Tabu der Sichtbarkeit bricht auch der Comic Nacjolove von Jakub Topor, erschienen im Jahr 2018, in dem zwei vulgärnationalistisch gesinnte Fußballfans ihre starke gegenseitige Zuneigung entdecken, und zwar ausgerechnet während des berüchtigten nationalistischen Marsches am polnischen Unabhängigkeitstag, dem 11. November.

Abb. 8: Bechdels autobiografischer Statement für die Sichtbarmachung des lesbischen Lebens.

Die national hochheilige hyper-heterosexuelle Männlichkeit wird hier zum einen als primitiv und hässlich entlarvt und parodiert, zum anderen im intimen Tête-à-Tête der Fußballfans ›entehrt‹. Ganz im Sinn des aktuellen nationalistischen Diskurses der ›Befreiung‹ Polens von LGBTQ-Menschen werden beide ›Nation-Lovers‹ von anderen Fußballfans, die als erzürnte Moralwächter auftreten, am Ende des Comics eliminiert. Die Darstellung der ›Nation-Lovers‹ und ihrer Milieus – der Freunde, der Familien – ist stark stereotypisiert und überzeichnet, und zwar sowohl auf der Ebene der soziodialektalen Dialoge wie auch der betont hässlichen Zeichnungen. Die beiden Männer wie auch ihre Kumpels sprechen ein reduziertes, aggressives, mit Vulgarismen durchsetztes Polnisch, erkennbar u.a. als Jargon der rechten Hooligans.

Abb. 9: Verbotene Intimität – erster Kuss zweier

rechtsgesinnter Fußballfans.

 

Bereits die erste intime Annäherung zwischen Byro und Capek ist ironisch überzeichnet – in einer Umkleidekabine vor der Polizei versteckt, erleichtert und zugleich vom patriotischen Rausch getragen, küssen sie sich; im Hintergrund hört man die melancholische Stimme des Teenie-Schwarms Harry Styles (Abb. 9). Den anschließenden Liebesakt zeichnet Jakub Topor in aller Ausführlichkeit, der Zuschnitt der Panels mit der Fragmentierung und Fokussierung auf Geschlechtsteile hat eine pornografische Qualität, die Penetranz der Darstellung bricht mit der Logik des homoerotischen Tabus. Das Ausmaß der Überschreitung wird Bild für Bild ausgekostet, das ausgelebte Begehren erscheint als ein Glücksmoment, den es – wie auch die lesbische ¬Superprocenta – nicht geben darf, weil der homosexuelle und zugleich nationalistische Mann im aktuellen nationalen Diskurs nicht vorkommen darf. Wie die aktuellen soziologischen Studien zur ideologischen Profilierung genuin nationalistischer Vereine nachweisen, wird Homosexualität als »eine Gefahr« (Wrzosek 2010, 250) für die polnische Wertegemeinschaft betrachtet und damit stillschweigend zum absoluten Tabu für die Mitglieder der Vereine erklärt. Auf die Aushöhlung eben dieser Haltung zielt der Comic.

Die männlichen Figuren im Comic Nacjolove – allesamt Vertreter der Unterschicht – deklarieren eine stabile, eindeutige Heterosexualität als einzig mögliche Form der Sexualität und legen ein kollektives Macho-Verhalten an den Tag. Homosexuelle Liebe erzeugt bei ihnen Ekel, Aggression und ›heilige‹ Empörung. Der Ekel ist als Affekt ein Ausdruck der Abjektion und damit verantwortlich für die (körperliche) Ablehnung von Individuen und Gruppen, die als Andere wahrgenommen werden. Jakub Topor setzt selbst auf eine solche Affektbildung: Seine nationalistischen Helden, vor allem Byro, wirken abstoßend, ihre Körper sowie die Körper ihrer nationalistischen Kumpels sind unförmig, mit einem Zuviel an Leiblichkeit ausgestattet – sie sind zu dick bzw. zu muskulös, zu behaart, zu pickelig. Dies ist auch kulturell bedingt – in Polen unterliegt der männliche Körper starker repressiver Modulierung, in der jede Abweichung von der vermeintlichen Norm entsprechend registriert wird. Genauso fern jedes Schönheitsideals und nur ein bisschen besser gepflegt sind allerdings die neuen Freund_innen von Byro, die er auf der Suche nach Gleichgesinnten in einer LGBT-Bar kennenlernt. Potentiell abstoßend erscheinen also die Vertreter_innen beider Fronten, der liberalen wie der nationalistischen, entscheidend ist aber der Exzess der Überschreitung des homosexuellen Tabus bei den ›Patrioten‹. Das bedrohlich wirkende Zuviel an Leiblichkeit, ein Erkennungszeichen der männlichen Communities der Fußballfans oder auch der paramilitärischen nationalistischen bzw. faschistischen Organisationen, findet sein Pendant in der Rücksichtslosigkeit des Überschreitungsverbots. Das Verbot der Überschreitung heteronormativer Sexualität ist so stark internalisiert, dass Byro und Capek nach der Liebesnacht in das abjektive Schema zurückfallen: In einer Mischung aus Ratlosigkeit, Scham und Aggression versichern sie einander »Na gut, kann ja passieren«, »einmal, zufällig«11. Ein gemeinsamer Ausflug aufs Land wird vor Kumpels sorgfältig kaschiert, das Idyll im Grünen durch die Angst gesehen zu werden verdorben. Der (Selbst)Ekel bleibt, stets geschürt durch die homophobe Umgebung, in der schon ein Mann, der beim Onanieren auf Pornobilder nicht dabei sein will oder single ist, den Verdacht erweckt, er wäre schwul. Byro besucht zwar eine LGBT-Bar und anschließend eine entsprechende Party, fühlt sich aber unsicher, da er die Codes der Community nicht lesen kann; auf den Habitus, die Sprache der ›Liberalen‹ reagiert er mit Unverständnis, schließlich mit Empörung und Wut.

Abb. 10a und 10b: Byros Crossdressing und die erste Erkundung einer queeren Bar.

Es stellt sich die Frage, ob das nationalistische Gebot patriotisch getönter Heterosexualität in Nacjolove nicht auch diejenigen, die ihm gehorchen, in ihre Körper einsperrt.12 Dies legt zumindest die Figur von Byro nahe: Sexuelle Vorstellungen des Abjekten hindern ihn daran, die eigenen sexuellen Wünsche auszuleben. Wenn er in Vorbereitung auf den Besuch einer LGBT-Bar in einer Umkleidekabine sexuell erregt ist, weil er sich zuvor von einer attraktiven Verkäuferin hat beraten lassen, ist er nur kurz überrascht – der Gedanke, er könnte vielleicht bisexuell sein, ist ihm wohl zu fremd, während er doch gerade erst dabei ist, sich mit seiner Homosexualität zu arrangieren. Byro verdeutlicht somit als Vertreter der »männlichen Herrschaft« Pierre Bourdieus Einsicht, dass Männer in einer patriarchalen Gesellschaft auch Opfer und Gefangene der männlichen Herrschaft sind (Bourdieu 2005, 63–67). So zeichnet Topor Byro als jemanden, der aus seinem Körper nicht heraus kann – trotz Perücke und gemäßigtem Styling (Abb. 10a, 10b), das hier fast eine Form des Crossdressing ist. Aber, und das ist bezeichnend, ausgerechnet in der Party-Szene mit LGBT-Menschen, in der er wie verwandelt ist, kommen Byro für einen kurzen Moment Zweifel an seiner Weltanschauung: »Was brauche ich diesen Nationa…«.13 Durch den Anblick von zwei sich küssenden Frauen wird der Gedanke unterbrochen und nicht zu Ende gedacht.

Der phantasmatische Körper

Die Unsichtbarkeit des nichtheteronormativ agierenden Körpers ist eng verschränkt mit der ritualisierten Sichtbarmachung des phantasmatischen Körpers. In der polnischen Kultur hat der Körper der Mutter solch eine phantasmatische Qualität, oder präziser: Es sind Repräsentationen der Mutter, symbolisiert als Mutter-Polin und als Mutter Gottes, vereint in einer imaginierten Symbiose von Polen, als einer ›auserwählten Nation‹, mit dem ›Reich Gottes‹.14 Die polnische Kulturwissenschaftlerin Maria Janion entwickelte entlang des Phänomens des Phantasmas (in Anlehnung an Sigmund Freud und Melanie Klein)15 ein spezifisches Romantik-Verständnis als zentrale Kategorie für die polnische Kultur. Das Phantasma wird in Janions Auslegung zu einem Schlüsselbegriff der polnischen Romantik, die das Verdrängte, Nichtrationale, Wilde gewissermaßen zu mentalen Emanzipationskategorien für die damals – im 19. Jahrhundert – beschädigte polnische Nationalidentität erhoben hat. Die Frau erscheint in dieser Konstellation als das Andere des männlichen Prinzips und unterliegt der symbolischen Gewalt nationaler Phantasmen. Janion schreibt u. a. über die doppelte Funktion der Darstellungen der Polonia: »Der phantasmatische Körper der Polonia wurde als erniedrigt, geschändet, geschlagen und gequält dargestellt. Dies konnte Hass und Rache an brutalen soldatischen Tätern schüren, aber genauso gut konnte es, wie man weiß, erotische Fantasien erwecken« (Janion 2008, 283).

Die nationale Symbolisierung der Frau als diejenige, die eine reproduzierende und repräsentierende Funktion zu erfüllen hat, erfährt im Phantasma der Mutter-Polin eine ideale Realisierung, die zugleich durch die obligatorische Konnotation der Jungfrau Maria, der Mutter Gottes, eine transzendente Note bekommt. In der Gestalt von Maria, die im 17. Jahrhundert (nach dem Sieg über Schweden bei Tschenstochau) zur ›Königin Polens‹ erklärt wurde, kommen einige Idiosynkrasien zusammen: das Heimelige, das Nationale und zugleich das Regionale, vor allem aber verbinden sich in ihr widersprüchliche Konzepte von Weiblichkeit. Brian Porter erläutert:

Mary, the Queen of Poland, has been offered to the faithful as a model for conceptualizing the feminine within the nation, a model which is flexible enough to endure because it rests on a basic dichotomy: on the one hand, Mary is a powerful, sometimes militant protector of Poland; on the other hand, she is an example of feminine domesticity. (Porter 2005, 153)

Maria als exemplarische Mutter ist zugleich – auf der phantasmatischen Ebene – ewige (und: ewig junge) Jungfrau, in der Genderhierarchie der Heiligen Familie der Macht von Gott und Jesus unterlegen, die als Männer imaginiert werden, stets ›im Dienst‹ Gottes und der polnischen Volksgemeinschaft, also: verfügbar und gefügig, und zwar wenn es darum geht, die Bedrohung der polnischen nationalen Werte vom ›äußeren Feind‹ (derzeit in der Auffassung der rechtsradikalen PiS-Partei: der ›LGBT-Ideologie‹)16 aufzuzeigen, aber auch verfügbar zur Legitimierung und Konsolidierung der nationalen Diskurse, die das Imaginarium der auserwählten Nation fortschreiben.17

Abb. 11: Marienerscheinung im Erbrochenen des Protagonisten.

 

Im polnischen Comic hat der phantasmatische Körper der Heiligen Mutter kraft seines ikonographischen und symbolischen Potentials unterschiedlichen Narrationen als Antrieb gedient. Magdalena Kaszuba entwickelt in ihrem autobiografischen Comic Das leere Gefäß (2016) die in beklemmenden Aquarellen gehaltene Geschichte eines Kindheitstraumas, das in der erfahrenen katholischen Erziehung gründet. In der ersten Folge von Michał Śledzińskis Osiedle Swoboda [Siedlung Swoboda] mit dem Titel Matka boska extra mocna [Muttergottes extra stark] sehen die in der Kirche versammelten Gläubigen die Heilige Jungfrau im Erbrochenen eines zur heiligen Kommunion gezwungenen, stark verkaterten  Protagonisten (Abb. 11). Das Motiv der Marienerscheinung, nicht nur im polnischen Marienkult als unterschiedlich gedeutetes göttliches Zeichen präsent, greift auch der Underground-Comickünstler Krzysztof Owedyk aka Prosiak [Ferkel] im Comic Impreza u prezesa [Party beim Vorsitzenden] (2011) auf, den ich im Folgenden näher analysieren möchte.

Abb. 12: Der Vorsitzende verursacht eine Marienerscheinung.

 

Mit dem Vorsitzenden ist Jarosław Kaczyński gemeint, Chef der Partei Recht und Gerechtigkeit – er ist hier auch die Hauptfigur. Der Vorsitzende wird beim Fernsehen gezeigt, angewidert von »all den Deutschen, Russen, Tusken, Juden, Schlesier, Nichtpolen, Posener, Feiglingen, Agenten, Päderasten, Pennern, Verschwörern, Verrätern, Internauten«18 übergibt er sich; der Schwall Erbrochenes ergießt sich über den Fernsehbildschirm (Abb. 12). Die daraus entstehende Erscheinung auf dem Bildschirm, die einer Marienerscheinung ähnelt, verwirrt und erschreckt den Vorsitzenden, zumal die Marienerscheinung auf einmal aus dem Fernseher steigt, physisch vor ihm steht und sich unkontrolliert vervielfacht (Abb. 13).

Abb. 13: Marien-Party beim Vorsitzenden.

 

Überzeugt, Opfer eines terroristischen Anschlags seitens der »Islamistinnen«19 zu sein, wird der Vorsitzende erst halbwegs besänftigt, als sich die einzelnen Marias vorstellen: Muttergottes von Tschenstochau, von Fatima, von Lourdes, von La Selete, von Opeln, von Guadeloupe, von Kazan, vom Spitzen Tor, Heilige Maria der Kräuter, der Bienen, des Schnees, des Säens, des Schmerzes, etc. Empört über die »Intensivierung der Eigenartigkeiten« in seinem trauten Heim, wird er von einer Maria über den Anlass aufgeklärt: Es handelt sich um ein »Treffen der Müttergottes, organisiert vom Klub der Jungfrauen«20, wo sich der Vorsitzende wie »unter Gleichgesinnten«21 fühlen soll. Der Vorsitzende beschimpft die Jungfrauen als »Affen«22 und setzt der Party ein jähes Ende, nun aber steht auf einmal eine letzte Erscheinung in der Tür, die sich als »Muttergottes von Smoleńsk« vorstellt und den verstorbenen Zwillingsbruder Kaczyńskis an ihre mechanische Brust drückt (Abb. 14). Es handelt sich dabei um eine Anspielung auf die Flugzeugkatastrophe von 2010, in der neben dem damaligen Präsidenten Lech Kaczyński mehrere Vertreter_innen der polnischen Regierung, des Militärs und des öffentlichen Lebens umgekommen sind (insgesamt 96 Personen). Die Katastrophe wird von der PiS-Regierung als Opfer-Narration instrumentalisiert.

Abb. 14: Die einzig erwünschte Maria: Muttergottes von Smoleńsk.

Krzysztof Owedyks Verankerung im polnischen Underground Comic dürfte am Zeichenstil und der plakativen Überzeichnung erkennbar sein; er ist nicht der Einzige in der Szene, der die Auswüchse der polnischen Politik zum Thema seiner Kunst macht. Die Remedialisierung des phantasmatischen Körpers der Muttergottes leistet nicht nur die Verspottung des mächtigen Partei-Vorsitzenden. Die Vervielfältigung der Muttergottes im Comic zeigt die kulturell geprägte Diversität der Marienfigur auf und demonstriert zugleich ihren untergeordneten Status innerhalb der Heiligen Familie, der sich auch in der Reaktion des Vorsitzenden niederschlägt. Dabei wird das Phantasmatische ihrer Verkörperungen manifest: Sie entsteht buchstäblich aus dem physiologischen Ekel des Mannes heraus, ist damit gewissermaßen Fleisch gewordene Abjektion, die die Panels füllt und zugleich ein unmöglicher, irrealer Körper ist. Zuletzt tritt dieser unmögliche Körper singulär auf, mechanisiert, einem Cyborg ähnlich und dennoch mütterlich, beschützend – angereichert durch einen Opfermythos neueren Datums (der Smolensk-Katastrophe von 2010). Diese aktualisierte Madonna aus dem gebrochenen Blech des Flugzeugwracks bringt die erwünschte Erfüllung – als männliche Phantasie von »iron maiden, the robotisized machinic, pornographic female« (Lykke et al. 2003, 321) und als eine modernisierte nationale Wunschprojektion der Mutter-Polin. Owedyk perfektioniert und pervertiert also in seinem Comic das nationale Phantasma der besonderen Leidensfähigkeit qua ›Auserwähltheit der Nation vor Gott‹ in der Figur der Madonna von Smolensk. Er perfektioniert das Phantasma bzw. treibt es auf die Spitze, indem er dem imaginären Körper der Madonna – also der ›Mutter der polnischen Nation‹ – zwei Triebwerke als Brüste verpasst, sie damit in den Kontext des nationalen Opfers bringt. Er pervertiert es, indem er den hybriden Körper in einem heiligen Nimbus erscheinen lässt. Die doppelte Hybridisierung (als Cyborg bzw. Frau-Maschine und als Muttergottes, d. h. Frau-Heilige) lässt die Madonna »als eine Fiktion« erscheinen, »an der sich die Beschaffenheit unserer heutigen gesellschaftlichen und körperlichen Realität« (Haraway 1995, 34) zeigt. »Unserer Realität« will hier, mit Haraway, heißen: der von Frauen erfahrenen Realität, die sich, wie die Inkarnation des Cyborgs, »außerhalb der Heilsgeschichte vollzieht« (Haraway 1995, 34). Maria als Cyborg »überspringt die Stufe ursprünglicher Einheit, den Naturzustand im westlichen Sinn« (Haraway 1995, 34), den der patriotische Mutterdiskurs aufrechtzuerhalten bemüht ist. Die Madonna von Smolensk bricht mit den tradierten (männlichen) Vorstellungen der verfügbaren Mutter der Nation, und zugleich nährt sie noch den verstorbenen Bruder Kaczyńskis. Ihren maschinellen Körper aus Wrackteilen belebt offensichtlich der als Teil der Nationalidentität propagierte Glaube an den Schutz, der der ›auserwählten‹ Nation seitens der Mutter Gottes zusteht. Das Phantasmatische dieses Glaubens wird in der Vermischung von spirituellen, erotischen, technischen und nationalistischen Komponenten entlarvt, aus denen der von Owedyk gezeichnete Körper der Smolensk-Madonna gebaut ist.

Fazit

Damit die Frauen der Solidarność-Bewegung von 1980 als Teil der historischen Narration wahrgenommen werden, müssen sie in künstlerischen Interventionen sichtbar gemacht werden; dies betrifft in ähnlicher Weise auch den als lesbisch bzw. queer markierten Körper. Die feministische Philosophin und Aktivistin Ewa Majewska spricht deshalb in der Publikation zur Ausstellung Die Unabhängigen über die Notwendigkeit der »Etablierung eines feministischen Kanons, […] Kreierung neuer Heldinnen, Biografien und Bezugspunkte«.23 In Anlehnung an Ann Cvetkovich, Autorin des Konzepts des »affektiven Archivs«, entwirft Majewska die Struktur eines »hybriden, cyborg-mäßigen, plurisemantischen und innerlich widersprüchlichen Archivs«, das »auf keinem unschuldigen Gründungsmythos, auf keiner heroischen Utopie«24 fußt. Im Kontext des politisierten, gegenderten Körpers im Comic erscheint mir dieses Konzept aus zwei Gründen relevant. Erstens, weil sowohl das traditionelle Archiv als auch Strategien der Unsichtbarmachung queerer Körper und der Kreierung und Aufrechterhaltung phantasmatischer Körper von vergleichbaren Machtkonstellationen durchzogen sind. Zweitens kommt die Idee eines queer-feministischen Archivs, das sich etablierten Kanons und damit realen kulturellen Hierarchien widersetzt, dem wachsenden Stellenwert der sozialen Verankerung der in Comic erzählten Geschichten entgegen. Die hier präsentierten Comics sind im aktuellen polnischen Kontext als Zeugnisse zu betrachten, was sich schon in den aktivistischen Formaten manifestiert, in denen sie veröffentlicht werden: Sosnowskas Comics waren jeweils als Flyer zu einem lesbischen Manifest und als ein Kurzcomic für eine französische LGBTQ-Revue konzipiert, bei Owedyk handelt es sich um eine Fanzine-Publikation. Die Underground-Ästhetik verweist – mit Ausnahme von Topors Graphic Novel – auf eine DIY-Kultur, die in der Darstellung phantasmatischer und unsichtbarer bzw. unlesbarer Körper als »produktive Intervention« (Reitsamer/Zobl 2015, 374) verstanden werden will. Die Formate machen deutlich, dass es bei diesen Arbeiten um mehr geht als um Fragen der Repräsentation – sie bezeugen eine politisierte Praxis der Sichtbarmachung der Körper Homosexueller (im Fall von Superprocenta und Nacjolove) und Entlarvung der Persistenz phantasmatischer Körpervorstellungen in der polnischen Kultur (bei Owedyk).

Die Verschwisterung eines »hybriden, cyborg-mäßigen, plurisemantischen« Archivs mit dem Comic bzw. der Comicforschung scheint vor allem für die geographische und kulturelle Ost-Erweiterung der Perspektive fruchtbar. Wenn für den US-amerikanischen Raum gilt, dass »at every moment of their cultural history, comic books have been linked to queerness, or to broader questions of sexuality and sexual identity in US society« (Scott/Fawaz 2018, 198), dann kann dies, so meine Beobachtung zum Abschluss, trotz aller Unterschiede im kulturellen Status der sequentiellen Kunst, auch auf den ost- und mitteleuropäischen Raum zutreffen.

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Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Tomasz Sarnecki: W samo południe. Wahlplakat der Solidarność, 1989. In: Wystawy ECS 2008-2020 wybór (Katalog der Ausstellungen im Europäischen Zentrum der Solidarność). Hg. v. Katarzyna Żelazek, Gdańsk: Europejskie Centrum Solidarności 2021, S. 151.
  • Abb. 2: Sanja Iveković: Niewidzialne kobiety Solidarności. (Invisible Women of Solidarity). Teil einer multimedialen Installation, 2009, in: Artur Żmijewski/Maurycy Gomulicki (Hrsg.): Krytyka Polityczna 2009, Nr. 18. Im Besitz von Muzeum Sztuki Współczesnej w Warszawie. <https://artmuseum.pl/en/kolekcja/praca/ivekovic-sanja-invisible-women-of-solidarity>.Letzter Zugriff am 20.05.2021.
  • Abb. 3: Zbigniew Libera: śmierć patrioty (autoportret). 2016.
  • Abb. 4–6: Beata Sosnowska: Superprocenta. In: Agnieszka Małgowska/Monika Rak: Lesbijska Inspira. Manifest. 2017. <https://feminoteka.pl/lesbijska-inspira-beata-sosnowska-superprocenta-2/>. Letzter Zugriff am 20.05.2021.
  • Abb. 7: Beata Sosnowska: Patriotyzm. In: La Revue LGBT BD. Nr. 6, 2017, S. 45–48, hier S. 48. <http://www.beatasosnowska.pl/komiks-patriotyzm/>. Letzter Zugriff am 20.05.2021.
  • Abb. 8: Bechdel, Alison: The Essential Dykes to Watch Out For. London: Jonathan Cape, 2009, S. XV.
  • Abb. 9–10b: Topor, Jakub: Nacjolove. Warszawa: timof comics 2018, S. 13, 139, 157.
  • Abb. 11: Michal Sledzinski: Osiedle Swoboda. Warszawa 2011, S. 28.
  • Abb. 12–14: Krzysztof Owedyk (Prosiak): Prosiacek X. Warszawa: Kultura Gniewu, 2012, o. S.

 

  • 1]   Vgl. <https://niepodlegle.artmuseum.pl/pl/artysta/191>. Letzter Zugriff am 15.09.2020.
  • 2]   Zur männlichen Dominanz in den Nationalismus-Theorien schreibt Suruchi Thapar-Björkert: »[…] the most determining feature missing from mainstream theories of nationalism has been the role of women and gender in political societies since the discussions on nationalism have been primarily by men about men.« Vgl. Dies.: Gender, Nations, and Nationalism. In: The Oxford Handbook for Gender and Politics. Hg. v. Georgina Waylen, Karen Celis, Johanna Kantola, S. Laurel Weldon. Oxford Univ. Press 2013, S. 803–827, hier S. 806. Vgl. dazu auch Ewa Hauser: Tradition of Patriotism, Question of Gender: The Case of Poland. In: Genders 22. Postcommunism and the Body Politic. Hg. v. Ellen E. Berry. New York Univ. Press 1995, S. 78–104, hier S. 79.
  • 3]   »In popularizing the symbol of womanhood, a specific identity of the woman based on qualities such as self-sacrifice, affection, and kindness was created.« Thapar-Björkert 2013, 811.
  • 4]   Ewa Hauser: »[… ] the authority of the new power holders’ nationalism derives legitimacy from the »natural« order of the religious order«. Hauser 1995, 80.
  • 5]   Vgl. Julia Kristeva: »It is not lack of cleanliness or health that causes abjection but what disturbs identity, system, order. What does not respect borders, positions, rules.« In: Dies.: Powers of Horror. An Essay on Abjection. Aus dem Französischen v. Leon S. Roudiez. New York: Columbia Univ. Press, 1982, 4.
  • 6]   Lesbijska inspira. Manifest. Od lesbijskiej konspiry do lesbijskiej inspiry. Rozmowa miedzy Damskim Tandemem Twórczym, Agnieszką Frankowską, Magdaleną Wielgołaską. https://feminoteka.pl/lesbijska-inspira-manifest/ 27.09.2017. Letzter Zugriff am 22.09.2020.
  • 7]   Ebd. Übersetzung K. K.
  • 8]   »The butch has the potential to disrupt the notion that masculinity is an inherently male attribute: the butch can be as good a man as any man is«. Ciasullo 2011, 341.
  • 9]   »[…] in the terms of mainstream, phallocentric culture, the butch body is not a »useful« body«. Ciasullo 2011, 341.
  • 10] »Raz, przypadkiem! / No dokładnie!«. Topor 2018, 59 [Übersetzung K. K.].
  • 11] Mehr dazu im Handbuch Polnische Comickulturen nach 1989, hg. v. Kalina Kupczynska / Renata Makarska, Christian A. Bachmann 2021.
  • 12] Vgl. Young 2011, 123.
  • 13] »A w sumie na chuj mi ten nacjona…« Topor 2018, 179.
  • 14] Wie Brian Porter betont, wird Polen in Schriften katholischer Geistlicher als auserwählte Nation bezeichnet, was in deren Auslegung auf Gottes Entscheidung zurückzuführen ist: »[…] the actual agency belongs with God, and the Virgin appears as a humble mediatrix or intercessor.« Der Grund dafür ist die Genderhierarchie des Landes, die in der Heiligen Familie ihr Vorbild hat. Beten zu Maria »leads to an image of Polish men asking a woman of military assistance. To soften these implications, priests typically qualify their Marian appeals with reminders that only God can work miracles.« Porter 2005, 156, 157.
  • 15] Siehe dazu Plata 2017.
  • 16] »[…] using the concept of ‘gender-ideology’ as an enemy figure has allowed illiberal actors to unite under one umbrella term various issues attributed to the liberal agenda, among them reproductive rights, rights of sexual minorities, gender studies and gender mainstreaming.« Grzebalska/Pető 2018, 165.
  • 17] Um die Aktualität dieser Tradition zu veranschaulichen, genügt ein Hinweis darauf, dass der polnische Gesundheitsminister in der PiS-Regierung Łukasz Szumowski während einer feierlichen Messe in Tschenstochau sein Amt dem Schutz der Heiligen Maria anvertraut hatte. Vgl. »Minister Zdrowia zawierzył polską służbę zdrowia Matce Boskiej.« KAI Polsatnews, online: <https://www.polsatnews.pl/wiadomosc/2018-05-29/minister-zdrowia-zawierzyl-polska-sluzbe-zdrowia-matce-boskiej/>. 29.05.2018 Letzter Zugriff am 30.09.2020. Auch der Ausbruch der COVID 19-Pandemie im Frühjahr 2020 wurde zum Anlass eines ähnlichen Aktes.
  • 18] »Na tych wszystkich Niemców, Rusków, Tusków, Żydów, Ślązaków, Niepolaków, Poznaniaków, tchórzy, agentów, pederastów, dziadów, spiskowców, zdrajców, internautów«. Owedyk 2012, o. S.
  • 19] »AAA! Otaczają mnie islamistki! Zamach!!!«. Ebd.
  • 20] »Zlot Matek Boskich. Zorganizowany przez Klub Dziewic«. Ebd.
  • 21] »Jesteś wśród swoich«. Ebd. Es handelt sich dabei um eine Anspielung auf die Jungfräulichkeit – also sexuelle Unerfahrenheit – des Vorsitzenden, ein bevorzugtes Spottobjekt im liberalen Teil der polnischen Gesellschaft.
  • 22] »Spieprzać małpy, koniec imprezy!«. Ebd. Die Beschimpfung ist eine Anspielung auf den jähzornigen Charakter des Vorsitzenden Kaczyński. Während einer Debatte im Parlament hat er die Opposition und die Liberalen als »verräterische Fressen« beschimpft.
  • 23] »Budowanie feministycznego kanonu wiąże się […] z tworzeniem nowych bohaterek, biografii i punktów odniesienia.« Majewska 2018, 36.
  • 24] »Hybrydyczne, cyborgiczne, wielowątkowe i wewnętrznie sprzeczne archiwum, nieroszczące sobie prawa do […] żadnego niewinnego mitu założycielskiego ani żadnej heroicznej utopii«. Majewska 2018, 37.