Wie wir lesen wollen

Das Hochhaus. 102 Etagen Leben rezensiert von Zara Zerbe

Vor dem Rezensieren musste erst einmal Staub gesaugt werden – allerdings nicht zwecks Prokrastination, sondern um das zu besprechende Werk einmal vollständig ausrollen zu können. Katharina Greves Webcomic Das Hochhaus hat eine Papierform gefunden, die nicht nur dem Gegenstand erstaunlich gerecht wird, sondern auch das Erzählen in Bildern an sich auf eine neue Ebene hebt: eine knapp sieben Meter lange Schriftrolle aus dem Hause Round not Square.

Offline arbeitet Greve schon länger nicht mehr als Architektin, im Internet hat sie jedoch ein monumentales Bauwerk hinterlassen: von 2015 bis 2017 bekam Das Hochhaus in seiner Webcomic-Version jeden Dienstag ein neues Stockwerk und damit ein paar neue Nachbar_innen mit so skurrilen wie alltäglichen Geschichten. Pakete für die Familie im 5. Stock, die eigentlich zu Hause ist, landen bei den Nachbarn im Erdgeschoss; ein Mann, der vorgibt, seine Eltern im 7. OG zu besuchen, ist in Wahrheit in dem BDSM-Studio im 16. OG, während seine Frau ihren Liebhaber zu Besuch hat; Teenager verweigern den Friseurbesuch, Kinder stellen mitunter unangenehme Fragen. Das Hochhaus ist in der Mitte halbiert und gewährt den Leser_innen Einblick in Küche und Wohnzimmer. Obwohl jede Wohnung ein farbenfroh und detailreich gestalteter Mikrokosmos für sich ist, spielen sich die Komödien und Tragödien des Alltags in ein und demselben Moment ab. Während diese Gleichzeitigkeit in der konventionellen Buchfassung, die zeitgleich zum Abschluss des Webcomics im September 2017 im Avant Verlag erschienen ist, nicht auf den allerersten Blick erkennbar sein dürfte, wird sie von dem Medium Schriftrolle umso deutlicher herausgestellt. Vollständig ausgebreitet bzw. ausgerollt zeigt sich, dass hier tatsächlich eine Momentaufnahme, ein bestimmter Augenblick im Leben der Hochhausbewohner_innen auf eine – wenngleich sehr lange – Papierseite passt. Durch die Rollenform lässt sich zwischen den Ereignissen in den einzelnen Stockwerken wie bei einer Kassette beliebig vor- und zurückspulen. Das Medium Schriftrolle eröffnet hier mit der gleichzeitigen Betrachtbarkeit eine eigentlich nicht mögliche Perspektive und macht sie durch die Option, den Fokus durch gezieltes zusammen- und auseinanderrollen zu verändern, erst greifbar.

Selbstredend ist es für das menschliche Auge beziehungsweise die menschliche Wahrnehmung kaum möglich, alles, was in dem Hochhaus passiert, auf einen Blick zu erkennen. Beginnt man die Lektüre, wie es in der Rolle angelegt ist, im Untergeschoss und arbeitet sich bis zum Dachgeschoss vor, zeigt sich eines schon sehr bald: Obwohl die Figuren sich nur innerhalb ihrer eigenen vier Wände bewegen, sind sie weder von den Nachbarn noch von unserer Lebensrealität isoliert. Der Paketbote, der die Pakete für die Hausbewohner_innen in seiner Eile direkt bei der Familie im Erdgeschoss abgibt, wird von zwei Frauen im zweiten Stock mitleidig beobachtet, während die Empfängerin im fünften OG angesichts der Aussicht, die muffige Wohnung der Familie Möller betreten zu müssen, die Nase rümpft. Genauso beantragt ein kleines Mädchen aus dem 1. OG politisches Asyl bei den Nachbarn, während seine Eltern ihre Ressentiments gegen Geflüchtete äußern. Neben Flucht und Migration, Digitalisierung und der zeitgenössischen Arbeitskultur (»Er hat sich immer einen kurzen Arbeitsweg gewünscht« heißt es im 21. OG über einen Einbrecher, der sein Unwesen offenbar bei den Nachbar_innen im Hochhaus treibt) ist auch die urbane Wohnraumknappheit ein Thema im Hochhaus: Die Wohnungsbesichtigung im 08. OG, bei der sich eine große Menschenmenge durch eine völlig heruntergekommene Wohnung schiebt, kommentiert eine Figur folgendermaßen: »So sieht es also aus, wenn ein Makler von einer ›Wohnung mit Potenzial‹ spricht.« Greve leistet damit eine ebenso treffende wie sarkastische Darstellung dessen, was auf dem Wohnungsmarkt in vielen Großstädten dank Gentrifizierung und Raubtierkapitalismus bittere Realität ist.

Das Private, das in den Alltagsgeschichten aus dem Hochhaus stattfindet, ist durchaus politisch. Das moderne städtische (Zusammen-)Leben wird in diesem Comic-Querschnitt nicht nur unter zahlreichen Gesichtspunkten durchleuchtet, sondern lädt gleichermaßen zum Weiterdenken ein. Ob es nun um erneuerbare Energien, die gerechte Aufteilung von Reproduktionsarbeit oder die Möglichkeit eines digitalen Haarschnitts (vgl. 24. OG) geht – für die Beantwortung der Frage nach dem guten Leben in der Gegenwart und in der Zukunft hält das Hochhaus vielfältige Ansätze bereit, die dank Greves durchaus schwarzen Humors und ihres feinfühligen Beobachtungssinns ohne erhobenen Zeigefinger auskommen. Es birgt einen erfrischenden Kontrast, diese sehr aktuelle Erzählung ausgerechnet auf einem Medium zu lesen, das spätestens seit dem Mittelalter nicht mehr für literarische oder wissenschaftliche Texte genutzt wurde. Dass die Schriftrolle im 21. Jahrhundert noch einmal das ganz große Comeback feiert, ist angesichts der Tatsache, dass sich ein Text auf diesem Trägermaterial nicht bequem auf dem Sofa, im Bett oder in der Bahn lesen lässt, eher unwahrscheinlich. Ein sehr reizvolles Paradoxon ist überdies, dass die Schriftrolle die digitale Ursprungsform des Comics, in der sich scheinbar endlos durch die Stockwerke scrollen lässt, deutlich exakter abbildet, als es die klassische Buchform jemals leisten könnte. Die Endlosstruktur, die dadurch entsteht, vermag es erst, die komplexen Beziehungen und Erzählungen innerhalb des Hochhauses (be)greifbar zu machen. Es bleibt nur noch zu hoffen, dass wir eines Tages einen Einblick in die Rückseite des Hochhauses bekommen. Die Geschichten, die sich an den Fenstern, die von der Nachbarwohnung sichtbar sind, andeuten, versprechen ähnlich viel Spannendes wie der Querschnitt durch die Vorderseite.

 

Das Hochhaus
102 Etagen Leben
Katharina Greve (A/Z)
Berlin: Round not Square, 2017
o. P., 30,00 Euro
Bestellung unter: https://round-not-square.com/produkt/das-hochhaus-2