Die Bilder des Comics

Die Bilder des Comics. Funktionsweisen aus kunst- und bildwissenschaftlicher Perspektive rezensiert von Liza Ãœberall

Liest man Bild und Mythos – Geschichte der Bilderzählung in der bildenden Kunst (2003) von Luca Giuliani zum Verständnis der griechischen Antike, könnte man annehmen, der Comic hat seinen Ursprung bereits auf griechischen Vasen. Doch ist der Comic nicht mehr als eine erzählte Bildergeschichte?

»Comicbilder sind kein spezifischer Bildtypus. Innerhalb einer Comicnarration können Bildtypen verschiedenster Herkunft verwendet werden, um der Erzählung Bedeutungselemente beizusteuern.« (10) Dies ist eine der Thesen, mit der sich der Kunst- und Comicwissenschaftler Alexander Press in Die Bilder des Comics – Funktionsweisen aus kunst- und bildwissenschaftlicher Perspektive (2018) auseinandergesetzt hat, um der Vorstellung zu widersprechen, dass »es sich bei Comicbildern um eine Verkürzung, Vereinfachung oder Ironisierung eines Sachverhaltes handelt, nur, weil die meisten gezeichneten Bilder, in ihrer Zeichenhaftigkeit nicht dem Detailreichtum einer Fotografie entsprechen.« (10)

Seine Einleitung gibt einen ersten Überblick über die Historie und Elemente des Comics, auf deren spezifischen historischen Entwicklungen in den folgenden Kapiteln umfassend eingegangen wird. So überrascht es, dass Press direkt im ersten Kapitel die Bedeutung und Funktion der Sprechblase behandelt, welche auf den ersten Blick wenig mit dem Verständnis von Bildern zu tun zu haben scheint. Doch der Autor konstatiert, es gäbe »gute Gründe die Entstehung des Comics mit der Entstehung der Sprechblase gleichzusetzen, denn die Sprechblase ist ein untrüglicher Indikator für eine Bildkompetenz, auf die der Comic konstitutiv angewiesen ist.« (20). Dennoch ist die Sprechblase nicht das alleinige Indiz eines Comics. Sie ist vielmehr »ein Merkmal, eine Wirkung, dessen Ursache in einem spezifischen Bildverständnis liegt« (20), welches wiederum den Comic ausmachen könne. Darum stellt Press die Frage, wie sich die Eigenschaften und Entstehungsbedingungen für diese Auffassung präziser definieren lassen.
Zur Beantwortung führt er die Konzepte des phänomenologischen Verständnisses für Bilder nach Balzer und Wiesing an, die dieses nicht als eine symbolische Repräsentation, sondern zur Herstellung artifizieller Präsenz ansehen. Das bedeutet, dass Bilder dazu dienen können, etwas herzustellen oder sichtbar zu machen, was eigentlich unsichtbar oder physikalisch nicht existent ist. Beispielsweise sei eine Comicfigur durch den Gebrauch der Sprechblase artifiziell präsent. Die Sprechblase stellt so neben gesprochener Sprache auch die Figur als ein anwesendes Objekt dar. Deshalb benötigen die Betrachter_innen bereits ein bestimmtes Abstraktionsvermögen, um die Sprechblase rezipieren zu können. (19)

Daran schließt sich für Press die Frage nach den Faktoren an, die sich für ein Verständnis von Comicbildern ausmachen lassen und er stellt fest, dass diese bereits vor der Sprechblase zu finden sind. Welche Qualitäten und Merkmale machen einen Comic also ohne die Sprechblasen aus und lassen ihn als Comic erkennbar werden?

Das Kapitel »Funktionen des graphischen Stils« ist mit reichlich Bildbeispielen anschaulich illustriert. Press führt hier aus, dass der zeichnerische bzw. malerische Stil früher zur Einordnung von Kunstwerken diente, in der zeitgenössischen Kunstwissenschaft nun aber eher zur Charakterisierung von Künstler_innenpersönlichkeiten als zu ihrer Kategorisierung eingesetzt wird. So bekommt der Stilbegriff eine neue Bedeutungsebene als Wirkbegriff und erhält die Rechtfertigung seiner »Wirkmächtigkeit« oder als eine »künstlerische Strategie« (27). Die Funktionsweisen des grafischen Stils im Comic zeigt der Autor an zwei Beispielen aus der klassischen Kunstgeschichte auf und weist darauf hin, welche rezeptionsästhetischen Eigenschaften der grafische Stil entwickeln kann. Für diese Aufstellung wählt Press eine aus der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts stammende realistische Zeichnung von verschiedenen Obstsorten, einem Vogel und einem Insekt des Philosophen Ullise Aldrovandi und die impressionistische Malerei Crichton Castle (1818) von William Turner aus. Doch was haben diese Werke nun mit einem Comic zu tun? Anhand der Darstellung des Vogels mit Früchten von Aldrovandi analysiert Press, dass die Funktion dieser Zeichnung darin besteht, durch die künstlerische Abstraktion, also den Stil, eine naturnahe Beobachtung zu vermitteln und sich von einer realistischen Abbildung zu entfernen. Press zufolge beschränkt sich hier der Stil nur auf die wichtigsten Merkmale der Naturbeobachtung, was sich wiederum vorteilhaft auf die Identifizierbarkeit und Klassifizierung des Gegenstandes auswirkt. (30) Gleichzeitig fordert dieser von den Betrachter_innen einen Abstraktionsvorgang, um das Dargestellte auf andere Beobachtungen beziehen und dementsprechend einordnen zu können. Diese Idee projiziert der Autor auf den Stil und die Bilder des Comics: So sind auch hier die Striche auf einen Vervielfältigungsprozess ausgelegt, weshalb Zeichnungen gegenüber der Realität reduziert werden können. Sie haben ebenso einen rezeptionsästhetischen Einfluss darauf, wie die Leser_innen die Geschichte wahrnehmen. Der Unterschied zur Naturbeobachtung ist, dass die Comicbilder nicht an die Realität gebunden sind, sondern ihre eigene Welt, anhand der Abstraktion, erschaffen können. Damit stellt Press dar, wie sich der Comic mittels des Stils von den Bildern der Realität unterscheiden kann und den Betrachter_innen die Möglichkeit offenbart, andere Welten zu betreten. Die Landschaftsmalerei Turners unterstreicht seine Behauptung, dass der abstrahierte Stil zur Vermittlung einer Wahrnehmungsweise, einer Atmosphäre oder auch einer ›eigenen Welt‹ dienen kann.

Mithilfe dieser Erkenntnisse wird nun untersucht, wie sich der grafische Stil und die Narration beeinflussen können. Als erstes greift der Autor den sogenannten Mindstyle auf. Ein Begriff, den Kai Mikkonen in seinem Aufsatz Subjectivity and Style in Graphic Narratives (2013) eingeführt hat. Mikkonen beschreibt damit »die Verwendung eines Stils als Ausdrucksmittel der mentalen Verfassung der Protagonisten« und Press bestätigt, dass die Funktion des grafischen Stils als Repräsentation der inneren Vorgänge eines Charakters seine Verwendung im Comic findet. (37) Dabei ist der Mindstyle nicht das entscheidende Merkmal für beispielsweise die Repräsentation der Gefühlswelt der Protagonisten eines Comics. Zusätzlich führt Press die Theorie der Fokalisation an und stellt diese gegenüber. Seine theoretische Behauptung wird an einem Ausschnitt aus dem Comic Calvin & Hobbes aus dem Jahre 1993 exemplifiziert, in dem es um die Freundschaft des Kindes Calvin mit seinem Stofftiger namens Hobbes geht. In der Szene wird ein typischer Schultag des Jungen dargestellt. Die Panels der Sequenz sind fantasievoll und vielseitig gestaltet: Der Tag bewegt sich zwischen einem Lauf von Calvin im Hamsterrad, Strafarbeit in einem Gefängnis und einem referierenden Papageien. Nach Schulschluss trifft Calvin im letzten Bild und nun im gewohnten Stil des Comics, auf den Tiger Hobbes und sagt, dass er froh sei ihn wiederzusehen. Diese zeichnerische Variation während der Narration zeigt so eindeutig auf, dass die Panels des Schulalltages in Calvins Kopf, also in seiner eigenen Wahrnehmung passieren. Als die Protagonisten zum Ende vereint sind, tritt die gewohnte Bildstruktur ein und der Junge kehrt aus seiner eigenen Wahrnehmungswelt in die Comic-Realität zurück.
Press stellt sich die Frage, ob der »Mindstyle – also die Zuschreibung von graphischem Stil, Stilunterbrechungen oder Stilheterogenität zu einem individuellen Bewußtsein in der Storywelt – ausreicht, um zu erklären, was rezeptionsästhetisch hier von den Betrachter_innen erwartet wird, damit sie die Geschichte nachvollziehen können« (46). Mit der Darstellung weiterer repräsentativer Beispiele, wie aus dem Comic Asterios Polyp (2009) von David Mazzucchelli, beleuchtet der Autor diese Fragestellung. Er erarbeitet, dass dem grafischen Stil eine erweiterte Aufgabe als die reine Darstellung der Gegenstände zugeschrieben werden kann und der Mindstyle allein diese nicht ausreichend erklären kann.

Abschließend werden die erworbenen Funktionsweisen des grafischen Stils im Comic zusammengefasst: Darstellung des Bewusstseinszustandes, Darstellung der diegetischen Welt, Stil als Zeichen, Stil als Darstellung von mentalen Zuständen und Stil als grafische Spur des Künstlers. (52) Mit dieser Vielfalt kann der Stil als Mittel, derer sich ein Comic bedienen kann, die Rezeption der Narration bei den Betrachter_innen modellieren. In dieser Manier veranschaulicht Press seine Thesen auch in den folgenden Kapiteln immer am Comicbild. Allgemein sind die Beispiele gut gewählt und präsentieren die dahintersteckenden Funktionsweisen auf eine verständliche Art und Weise.

Im dritten Kapitel widmet sich Press dem Integrationseffekt. Nach der Feststellung, dass die aus Bildern konstituierten Comicgeschichten aus »komplexen Strukturen verschiedenster Modi der Zeichencodierung bestehen können« (55), kann es seiner Meinung nach auch solche geben, die neben der Darstellung von Handlungsmomenten einen weiteren Eigenwert mitbringen und beispielsweise die Wahrnehmung eines Protagonisten darstellen. Die Beschreibungen, die im zweiten Kapitel so gut gelungen sind, bauen nun leider ab. Zwar wird ungefähr verständlich, welche Stellung der Integrationseffekt annehmen kann, aber seine Ausführungen dazu könnten zum Verständnis der Leser _innen klarer und ausformulierter sein. Weiter beschreibt er die Begriffe und Konzepte der Bildtypen, Intertexutalität, Intermedialität, Multimodalität und Integration. Hier wird jedoch nicht ganz deutlich wie Press vom Integrationseffekt den Bogen auf diese Merkmale spannt. Erfreulicherweise beleuchtet Press an einem Panel aus dem Comic Logicomics und der Gegenüberstellung des Wanderers über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich die Wirkungsweise des Integrationseffektes und definiert ihn im Fazit wie folgt:

Die Handlungsstrukturen der Geschichte und die Funktionsweisen der verschiedenen Bildtypen gehen eine Synthese ein, in der der ursprüngliche Zweck des Bildes direkt verwendet, verstärkt oder allegorisiert werden kann. Auf diese Weise konstruieren verschiedene Bildtypen, immer auf Grundlage ihrer originären Funktion, den Sinngehalt der Geschichte mit. (78)

Nach einem Exkurs in die literaturwissenschaftliche Theorie zum Narrationsvermögen von Wolfgang Iser und Gérard Genette und ihre Rezipient_innenforschung, die sich auch in die Comicforschung übertragen lässt, kehrt Press im Kapitel Vom Bild zur Narration zurück zu den Bildern und sucht nach der Art, wie diese Geschichten erzählen können. Dazu zieht er beispielhaft die bekannte Zeichnung des Feldhasen von Dürer heran. Er überträgt die Narration des Hasen, der sich zwischen dem Fluchtmoment und ruhigem Verweilen bewegt, auf eine Comic-Sequenz des Zeichners Jason. Durch diese Vorgehensweise zeigt er wieder gelungen, wie ein Comic mit seinen zur Verfügung stehenden Mitteln Spannung erzeugen kann. Diese neue Erkenntnis, dass Bilder verschiedene Beschreibungsebenen beinhalten können, diskutiert er weiter. Dabei stellt der Autor Theoriemodelle der Kunsthistoriker Panofsky und Wittkower dem ›bedeutsamen‹ Interieur des Comics Asteroid Polyp gegenüber und kommt zu dem Schluss, dass »aufgrund ihrer narrativen Verbundenheit und ihrer formellen Ähnlichkeit, […] die Bilder nun die Möglichkeit [haben], aufeinander Bezug zu nehmen, um Bedeutung zu evozieren.« (119) Der letzte Abschnitt des Kapitels widmet sich dem Inhalt der Leerstelle, der Involviertheit der Rezipienten_innen als Grundlage eines narrativen Bildverständnisses und der sinnlichen Art und Weise, wie Menschen Bilder erkennen können.

Im sechsten Teil wird in Bezug auf den Anfang des Buches die Geschichte des Comics mit den Bedingungen verknüpft, die für seine Entstehung nötig waren. Denn die Tatsache, dass wir Comicbilder als solche wahrnehmen können, ist das Ergebnis eines historischen Prozesses, so Press. Die Narrationen auf beispielsweise antiken Vasen sind hierfür zwar Vorläufer, unterscheiden sich jedoch grundlegend vom heutigen Verständnis des Comics: Das Gefäß selbst war der Anlass der bildlichen Ausstattung, nicht wie beim Comic die Rezeption durch die Betrachter_innen (152).

Das vorletzte Kapitel New York um 1900 beschäftigt sich mit der »Familienähnlichkeit der Bildgeschichten« (155) und es wird dargelegt, dass die historischen Vorläufer des Comics vor seiner Erfindung um 1900 in New York nur rückwirkend als Comic betrachtet werden können. Weiter wird beschrieben, wie der damalige kulturelle und technische Wandel seinen Einfluss auf die »menschliche Tätigkeit des Sehens« (159) genommen hat. Nebst dieser kulturell-technischen Veränderung werden weitere Faktoren genannt, die um 1900 stattgefunden und zur Entstehung der ersten Comics beigetragen haben sollen. Dazu zählt Press Ereignisse wie die Migration nach Amerika, die Erfindung der Massenpresse oder die Verbreitung von Flugblättern.

Die Möglichkeiten der Rezeption, die Comics durch ihren Stil und ihre komplexen Ausdrucksmittel evozieren, sind vielfältig. Im vorliegenden Buch wird dieses Wesen des Comics als innovative bildwissenschaftliche Genreanalyse nicht nur erkenntlich, sondern bündelt als intensive comicwissenschaftliche Grundlagenforschung den aktuellen Stand der an der Comicforschung beteiligten Disziplinen.
Press offenbart den Lesern_innen eine neue Wahrnehmung der Bilderwelt des Comics. Aus der aufschlussreichen und präzise recherchierten Untersuchung können demnach sowohl Neulinge, als auch erfahrene Comic-Kenner_innen neue Erkenntnisse für sich und ihre weitere Comic-Erfahrung gewinnen.

 

Die Bilder des Comics
Funktionsweisen aus kunst- und bildwissenschaftlicher Perspektive
Alexander Press
Bielefeld: transcript Verlag, 2018
196 S., 29,99 EUR
ISBN 978-3-8376-4293-3