Schweizer Architektur-Geschichte(n)

Der Magnet von Lucas Harari und Der Pavillon. Mord an der Promenade Le Corbusier von Andreas Müller-Weiss rezensiert von Susanne Schwertfeger

Der Züricher Verlag Edition Moderne hat in den vergangenen Monaten zwei Comics vorgelegt, die sich unterschiedlichen Aspekten der Schweizer Architekturgeschichte widmen. Beide zeigen in eindrucksvoller Ausstattung und auf sehr unterschiedliche Weise, welches Bedeutungsspektrum Architektur und Design in unserer Gesellschaft einnehmen können – von der Idee der Gestaltung eines besseren Lebens, über magische Orte, der Identitätsstiftung bis hin zum veritablen Investitionsobjekt (oder gar: Mordmotiv?).

Der Ort lässt ihn nicht los. Unzählige Bücher und Artikel hat Pierre über die Therme im Valser Tal (Kanton Graubünden) gelesen, ganze Skizzenbücher mit Zeichnungen des Grundrisses und der labyrinthischen Gänge gefüllt und schließlich wollte er sogar sein Architekturstudium mit einer Betrachtung über diesen Bau abschließen. Nur tatsächlich besucht hat er das Gebäude noch nie. Kurz vor Fertigstellung seiner Arbeit verbrennt er jedoch plötzlich all seine Unterlagen und bricht sein Studium stattdessen ganz ab. Aber: der Ort lässt ihn nicht los. Und so macht sich Pierre irgendwann dann doch von Paris in die Schweiz auf, um das Thermalbad, Mitte der 1990er von Peter Zumthor entworfen, zu besuchen und vielleicht endlich zu ergründen, was ihn daran so fasziniert. Aber nicht nur der imposante Bau, der sich in grauem Quarzit aus dem Berg herausschält, besitzt eine quasi magnetische Anziehungskraft, wie Pierre im Laufe der Geschichte feststellen muss…

Der Magnet ist der Debut-Comic des Franzosen Lucas Harari über die Faszination der fiktiven Figur Pierre am realen Gebäude, mit dem er gleich auf Anhieb großen Erfolg und Aufmerksamkeit erzielen konnte. In Frankreich erschien der Titel 2017 bei Editions Sarbacane, auf Deutsch veröffentlichte ihn Edition Moderne als Lizenzausgabe, auch hierzulande mit einem großen Echo und inzwischen in der 3. Auflage.
Es liegt nahe, autobiografische Elemente im Thema und seiner Umsetzung zu vermuten, nicht nur, weil der Künstler selbst in der Geschichte als Erzähler fungiert: Hararis Eltern sind beide Architekten, doch der Sohn brach ein entsprechendes Studium ab, um sich an einer Pariser Fachhochschule der Druckkunst zu widmen. Immer wieder wird der Blick auf verschiedene grafische Techniken gelenkt, die der Comic gekonnt einsetzt: Die unruhigen und wirren Träume, die Pierre während seiner Zugfahrt nach Vals heimsuchen, vermischen die Ästhetik von Feder und Lithografie; die Oberfläche der Natursteinlagen der geheimnisvoll inszenierten Therme wird durch eine dezente Körnigkeit nachgeahmt, die an Aquatinta erinnert. Oft blicken wir dem Protagonisten beim Zeichnen über die Schulter, wenn er versucht, sich die Konstruktion des Baus in Skizzen zu erschließen und so zu verstehen, warum unvermittelt Durchgänge dort auftauchen, wo vorher noch massive Wand war (Abb.1).

Abb. 1: Zeichnen um zu verstehen: Öfter noch als comic-spezifische Eigenheiten zu nutzen greift der Autor auf die Ästhetik von grafischen Techniken zurück. In diesem Beispiel wird beides zusammengeführt. (Magnet, 59)

Oder wenn er den undurchsichtigen Architekturhistoriker Valeret, der Pierre zu folgen scheint und dessen Fortschritte in der Lösung des Rätsels um das Gebäude missgünstig beäugt, heimlich porträtiert. Und schließlich ist es ein kleiner Linolschnitt, der den jungen Mann dem Geheimnis seiner starken Verbindung zum Gebäude und dem Berg näherbringt.
Deutlich lassen sich die stilistischen Vorbilder Hararis ablesen. Seine Figuren und Szenerien vereinen die ligne claire Hergés mit den expressionistischen Hell-Dunkel-Kontrasten eines Charles Burns. Hier fügt sich auch das reduzierte Farbkonzept mit gedämpften Rot- und Blautönen gut ein, zum Beispiel in den Splashpanels der Bergpanoramen und Architekturansichten. Die Atmosphäre ist die Stärke des Bandes, denn so großartig die Architektur Zumthors hier auch dargestellt ist und mit einer volkstümlichen Legende ausgestattet zum mystischen Portal zwischen Kultur- und Naturraum aufgeladen wird: In der Erzählung, ob mittels Text/Dialog oder Bild, muss man über einige Defizite hinwegsehen. Die Tektonik des grids lehnt sich offensichtlich an die charakteristische Bauweise der Therme 7132, wie sie seit 2013 offiziell heißt, an. Deren unregelmäßig nebeneinander gesetzte Quader lassen eigentlich Lichtbänder zwischen den Einzelelementen entstehen, diese werden im Comic jedoch zu starken, schwarzen Linien. Dies wandelt die überraschende Leichtigkeit des Zumthor-Entwurfs in ein klaustrophobische anmutendes Labyrinth, das im Kontext der Geschichte sinnfällig ist (Abb.2).

Abb. 2: Harari setzt das Licht aus dem Konzept Zumthors spärlich ein und lässt Wasser und Stein eine düstere Stimmung erzeugen. (Magnet, 58)

Doch nicht immer ergibt sich daraus auch eine intuitive Lesefolge der Panels und es stört den Fluss, genau wie die stellenweise etwas holprigen Dialoge oder die unangebracht heftig erscheinenden Gefühlsausbrüche einiger Figuren. Dazu gehören ebenso die groben ›Streiche‹ der Hotelmitarbeiterin Ondine, die sich, wie ihre mythologische Namensvetterin wasseraffin, geheimnisvoll und verführerisch gibt und mit der Pierre eine kurze Affäre beginnt. Diese Episoden setzt Harari als Spannungselemente ein, die in letzter Konsequenz allerdings auf dem Niveau von generischen Jump-scares bleiben.
Wie auch schon häufig in anderen Rezensionen des Bandes bemerkt wurde: Die Therme selbst wird aufgrund dieser Qualitäten als Akteurin wahrgenommen. Dies mag aber auch eine Konsequenz der etwas blassen Charakterisierung des menschlichen Figurenpersonals sein.

In Der Pavillon wird die Architektur vom Subjekt zum Objekt, auch wenn der Titel etwas Anderes vermuten lässt. Statt des letzten und »kühnste[n]«1 Hauses steht dessen Entwerfer im Fokus. Dies ist nicht der erste Comic, den der Autor und studierte Architekt Andreas Müller-Weiss dem Stararchitekten Le Corbusier widmet. Bereits 1990 erschien Jünglingserwachen. Die ersten 38 % aus Le Corbusiers Leben im Schweizer Hochparterre Verlag.

Abb. 3: ›Corbu‹@work: Sein charakteristisches Outfit aus Anzug, Fliege und schwarzer Brille nutzte Le Corbusier für die Kreation einer Marke, wie auch seinen Künstlernamen. (Pavillon, 32)

Im aktuellen Band stehen nun die letzten Wochen im Leben des weltbekannten Multitalents im Mittelpunkt (Abb.3), ohne jedoch zur reinen Biografie zu werden. Ob Architekturtheorie, Wandmalerei, Städteplanung, Möbeldesign oder eigenes Maßsystem: Der Schweizer Le Corbusier prägte auf unzähligen Gebieten unser Bild der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seine Entwürfe sind eine »architektonische Antwort auf die globalen sozialen Fragen der modernen Gesellschaft«2, so lautet 2016 die Begründung anlässlich der Aufnahme von 17 seiner Bauten und Ensembles in sieben Staaten in das UNESCO-Welterbe – als erste interkontinentale Stätte auf dieser Liste.
Der Comic versammelt unzählige Beispiele aus dem weitgefächerten Le Corbusier-Oeuvre, aber auch von dessen Wegbegleiter_innen, wie zum Beispiel der irischen Architektin und Designerin Eileen Gray. In dem von ihr entworfenen Wohnhaus E-1027, in Roquebrune-Cap-Martin an der Côte d’Azur gelegen, wird im August 1996 der Arzt Dr. Peter Kaegi erstochen aufgefunden. Dieser reale Mord und eine ziemlich steile These zu dessen Motiv sind der vordergründige Anlass der Erzählung. Spannung kommt hier nicht wirklich auf und auch die Auflösung auf dem letzten spread ist eher antiklimaktisch. Die vermeintliche Kriminalgeschichte rund um den undurchsichtigen Doktor und seine Bemühungen, sich den Gray-Bau und alle darin befindlichen Design-Klassiker anzueignen, sowie die daraus folgenden Konsequenzen für die Le Corbusier-Foundation werden überlagert von kunsthistorischen und biografischen Aspekten. Und die sind selbst für Architektur- und Designfans nicht so ohne Weiteres zu decodieren. Um dies aufzufangen – und noch mehr Informationen und Kontext zu vermitteln, als bereits in den dichtgefüllten Comicseiten stecken – ist ein 14 Seiten umfassender Anmerkungsapparat angehängt. Darin liefert Müller-Weiss neben lexikalischen Erklärungen zu den historischen Personen sowie den Design- und Kunstobjekten auch eine Reihe von unterschiedlichen Dokumenten. Porträtfotografien, Grundrisspläne und lockere Entwurfsskizzen unterfüttern den biografischen-akademischen Charakter der Publikation (Abb.4).

Abb. 4: Im Anhang vertiefen diverse Dokumente die Leseerfahrung – und ergänzen noch mehr Literatur. (Pavillon, 50)

Besonders interessant sind dabei die Informationen und Eindrücke, die aus den Interviews des Autors mit den Zeitzeug_innen oder deren Hinterbliebenen stammen und die den immensen Rechercheumfang Müller-Weisses für den Comic erahnen lassen. Viele der auf den ersten Blick irritierend prominent gezeichneten Nebensächlichkeiten erklären ihre Anwesenheit anhand dieser Berichte. Gerahmt wird alles durch ein Vorwort und ein »[z]erknirschtes Nachwort« (64), die zudem einen Einblick in die persönliche Beziehung und Bewunderung des Verfassers zum Gegenstand seines Buches gewähren. Typografie und Satz dieser Seiten folgen der Ästhetik der Klassischen Moderne, wie sie beispielsweise in den Bauhaus-Büchern (hrsg. 1925 bis 1930 von Walter Gropius und László Moholy-Nagy) zu finden ist. Das Konzept der (kunsthistorischen) Referenzen an diese Epoche, die Le Corbusier nachhaltig selbst geprägt hat, zieht sich durch den gesamten Band, inklusive der Farbgestaltung. Die Vakatseiten sind polychrom in Blau, Gelb, Grün und Rot gehalten, und diese Grundfarben dominieren auch die rahmenlosen Panels, ergänzt durch das für Le Corbusier genauso essentielle Grau.

Müller-Weiss gliedert seine Seiten in zwei Ebenen. Während die Story um den Mord an der Promenade Le Corbusier sich innerhalb der Panels entwickelt, findet im gutter eine weitere Tragödie statt: Hier spiegeln Tiere die Handlungen der Menschen wieder, allen voran ein ganzer Schwarm von Raben (franz.: Corbeau). Sie stellen eine Art Personifikation des 1887 als Charles-Édouard Jeanneret-Gris geborenen Protagonisten dar, der sein Pseudonym in Anspielung auf den Namen seiner Urgrossmutter Lecorbésier ersann. Beide Erzählstränge werden immer wieder miteinander verwoben. Farbe und Form eines senffarbenen Telefonhörers werden zum ikonischen Glastisch E 1027 von Eileen Gray, zur Gießkanne und zur Mütze, um sich schließlich als Ei eines Raben zu entpuppen (Abb.5).

Abb. 5: In der dicht gedrängten Seitengestaltung nutzt Andreas Müller-Weiss die Möglichkeiten des Mediums Comic. (Pavillon, 22f)

Solche comic-spezifischen Elemente finden sich in allen spreads und machen Spaß, stehen manchmal jedoch an der Schwelle zum Gimmick und sorgen in Kombination mit der kleinteiligen Vielfarbigkeit auch für einen stellenweise extrem überfüllten Eindruck. Dadurch bleibt hier wenig Raum, die gestalterischen Qualitäten der dargestellten Objekte tatsächlich zu entdecken – oder zu verstehen, warum sie zu ›Klassikern‹ wurden und was deren Modernität ausmacht. Dies wird stattdessen nur indirekt in den Dialogen oder eingeflochtenen Konstruktionszeichnungen angedeutet. Comic und Anhang machen jedoch Lust, mehr über sowohl Le Corbusier als auch die Epoche der Moderne zu erfahren.

Motive von Gemälden, Grafiken oder Skulpturen sowie die Ästhetik der Fotografie finden sich regelmäßig in Comics. Unzählige Künstler_innenbiografien kommen jedes Jahr auf den Markt und immer wieder wird mit dem Einsatz von Kunststilen aus verschiedenen Epochen als Ausdrucksform experimentiert. Eine Auseinandersetzung mit Architektur im Medium Comic, die über den Aspekt der bloßen Kulisse hinausgeht, findet sich hingegen etwas seltener (prominente Beispiele wären hier z.B. die Bände von Schuiten und Peeters). Umso spannender sind die beiden Einträge von Harari und Müller-Weisse, die ›ihre‹ Bauten ganz unterschiedlich inszenieren. Wo Der Magnet zu einer beinahe nachvollziehbaren Raumerfahrung ansetzt, betont Der Pavillon die räumlichen/städtebaulichen Zusammenhänge der Handlungsorte in übersichtsartigen Anlagezeichnungen, ergänzt durch entsprechende Beschriftungen.

 

  • 1] https://www.nzz.ch/feuilleton/le-corbusier-ueber-seine-ausstellungsmaschine-dieses-haus-wird-das-kuehnste-das-ich-je-gebaut-habe-ld.1480389
  • 2] https://www.unesco.de/kultur-und-natur/welterbe/welterbe-deutschland/das-architektonische-werk-von-le-corbusier-ein

 

Der Magnet
Lucas Harari (A/Z)
Zürich: Edition Moderne AG, 2018
144 S., 32,00 Euro
ISBN 978-3-03731-182-0

Der Pavillon
Mord an der Promenade Le Corbusier
Andreas Müller-Weiss (A/Z)
Zürich: Edition Moderne AG, 2019
72 S., 29,00 Euro
ISBN 978-3-03731-187-5