Die Vergessenen der (Comic-)Forschung

Cultures of War in Graphic Novels. Violence, Trauma, and Memory rezensiert von Augusto Paim

Ein neuer Band zur Forschung von Comics als dokumentarische Mittel beschäftigt sich mit lokalen Kriegen, die bisher allzu wenig Interesse bei Forscher_innen fanden, etwa der Falklandkrieg, der Boxeraufstand oder der Libanesische Bürgerkrieg. Cultures of War in Graphic Novels beleuchtet diese Konflikte und stellt die Relevanz eines dezentralisierten Blickes auf die Welt in den Fokus. Allerdings scheint die Perspektive der Autor_innen bei näherer Betrachtung doch nicht immer wirklich dezentralisiert.

Studien, die sich mit dem Potenzial von Comics zur Dokumentation historischer Ereignisse auseinandersetzen, erscheinen mittlerweile in zahlreichen Publikationen. Zitierpflichtig sind hier Hillary Chutes Disaster Drawn: Visual Witness, Comics and Documentary Form (Harvard University Press, 2016) und Nina Mickwitz’ Documentary Comics: Graphic Truth-Telling in a Skeptical Age (Palgrave Studies in Comics and Graphic Novels, 2016). Die Darstellung von Kriegen in Comics und der Ausdruck traumatischer Erfahrungen durch Zeichnungen sind Themen, die Werke wie diese gemeinsam haben. Nun machen Tatiana Prorokova, die am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Philipps-Universität Marburg promovierte und dort mit dem Thema Climate Change and Eco-Culture from the Industrial Revolution to the Present gerade habilitiert, und Nimrod Tal, der am Kibbutzim College of Education, Technology and Arts in Israel Geschichte der Neuzeit unterrichtet, eine wichtige Bemerkung: Sie stellen fest, dass solche Studien sich meistens mit den größten weltweiten Konflikten des 20. Jahrhunderts befassen, vor allem mit den zwei Weltkriegen. In dieser Erkenntnis liegt der Neuigkeitswert des von ihnen herausgegebenen Bands Cultures of War in Graphic Novels. Violence, Trauma, and Memory. Es handelt sich um ein Werk, in dem unterschiedlichste Autor_innen in elf separaten Kapiteln »the connection between the graphic novel and conflicts that are limited and mostly local in scale« (CW, 2) untersuchen und das anhand von Comickulturen, die nur selten die Aufmerksamkeit der Comicforschung auf sich ziehen.

Die elf Kapitel werden in drei Themen gegliedert. Im ersten Teil des Buches geht es um die Rolle von Graphic Novels bei der Vermittlung historischer und zeitgenössischer Konflikte. Iain A. MacInnes setzt sich im ersten Kapitel mit dem Hundertjährigen Krieg (1337-1453) zwischen England und Frankreich auseinander. Anhand der ›graphic novella‹ Crécy von Warren Ellis und der bande dessinée-Serie Le Trône dʼArgile von Nicolas Jarry und France Richemond thematisiert er die Darstellung mittelalterlicher Konflikte und stellt fest, wie diese viel mehr die Erwartungen der zeitgenössischen Leserschaft widerspiegelt als auf historische Genauigkeit abzielt. Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Kent Worcester mit grafischen Erzählungen zu den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem darauffolgend von George W. Bush aufgerufenen ›Krieg gegen den Terror‹. Da dieser Band sich mit »conflicts that are limited and mostly local in scale« (CW, 2) auseinandersetzen will, stellt sich den Leser_innen sofort die Frage, ob das Thema dieses Kapitels zu dem Buch passt. Konflikte, an denen die US-Regierung beteiligt ist, sind nämlich nicht als lokale Konflikte zu bezeichnen. Ferner ist das Thema nicht besonders neu, allein in Deutschland forscht u.a. Lukas R. A. Wilde dazu im Teilprojekt »Mediale Reflexionen. Bedrohungskommunikation und die US-amerikanische Ordnung nach den Anschlägen vom 11. September 2001« am Institut für Medienwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Dasselbe könnte für das dritte Kapitel gelten, in dem Emir Pašanović zu Comics über den Bosnienkrieg (1992-1995) schreibt, denn seit der Erscheinung von Joe Saccos Graphic Novels erregte dieser Konflikt bereits viel Aufmerksamkeit in der Comicforschung. Dennoch verspricht Pašanović hier etwas Neues: »As far as I know, this is the first academic attempt to discuss a Bosnian graphic novel and Bosnian comics in general« (CW, 59). Tatsächlich ist Pašanović ein Comicübersetzer und -verleger, der aufgrund seines beruflichen Milieus einen Blick in die sonst hierzulande kaum wahrgenommene bosnische Comicszene ermöglicht.

Im zweiten Teil des Buches stehen die Erlebnisse von Nichtkämpfer_innen in Mittelpunkt, und zwar mit dem Ziel, den sozialen Einfluss von Kriegen (und ihre Darstellung in Graphic Novels) zu untersuchen. Harriet E. H. Earle schreibt im vierten Kapitel über den Boxeraufstand in China (1899-1901) anhand der Graphic Novels Boxers und Saints (beide 2013) von Gene Luen Yang, die jeweils eine Seite des Konflikts thematisieren: die eine der lokalen, ausländerfeindlichen chinesischen Bürger_innen, und die andere derjenigen, die sich zur Katholischen Kirche kehren wollten. Die Darstellungsweise von Spiritualität und Glauben stehen im Mittelpunkt dieses Artikels, der bereits auf den ersten Seiten anregende Überlegungen zur Anwendung der ligne claire-Technik als »an effective style for the rendering of traumatic narratives« liefert (CW, 78). Es folgt in Kapitel 5 ein Artikel von James Kelley über PTSD, die Posttraumatische Belastungsstörung. Kelley merkt an, dass Krieg zwar als ein bekanntes Thema in kulturellen Produkten wie Filmen, Fernsehsendungen oder Literatur auftaucht, allerdings: »the aftermath of war on the participants, such as the effects of PTSD, is rarely the emphasis of the portrayals in these different mediums« (CW, 92). Das thematisiert er mittels der Graphic Novel War Brothers (2013) von Sharon E. McKay und Daniel Lafrance zu Kindersoldaten im Kongo und in Uganda. In Kapitel 6 geht es um die Sklaverei in den USA. Joe Lockard untersucht u. a. die Graphic Novel-Serie Nat Turner (2005-2008) von Kyle Baker über den gleichnamigen Anführer des Sklavenaufstands in Southampton (1831), um die Verbindung zwischen visuellen Darstellungen von Gewalt und Rassismus-Fragen in Comics deutlicher zu machen. Im siebten Kapitel widmet sich Christina M. Knopf der Rolle von Frauen während den Aufständen in Irland. Dabei bedient sie sich der Graphic Novels des irischen Zeichners Gerry Hunt zu diesen Zeiten (1913-1981). Schließlich beinhaltet Kapitel 8 einen Artikel von Peter C. Valenti über Joe Saccos Palestine (2003), ein Werk und ein Comicautor, die bei solchen Studien zu dokumentarischen Comics anscheinend nicht fehlen dürfen. Wenn sich Cultures of War in Graphic Novels aber mit hierzulande weniger bekannten Werken und Autor_innen konsequent weiter beschäftigen wollte, könnte dieser andauernde Konflikt anhand der Figur des Flüchtlingsjungens Handala des palästinensischen Cartoonisten Nadschi Salim al-Ali oder mithilfe der politischen Cartoons des Brasilianers Carlos Latuff thematisiert werden. Es wäre dann jedenfalls deszentralisierter als der Blick eines US-Journalisten über Palästina.

Der letzte Buchteil beschäftigt sich mit Gedächtnis, nicht als stabilen Begriff, sondern als etwas, das konstruiert und immer wieder neu verhandelt wird. Silvia G. Kurlat Ares schreibt in Kapitel 9 über die Verhandlung des Falklandkrieges (1982) zwischen Argentinien und dem Vereinigten Königreich in argentinischen Graphic Novels. Argentinien verfügt über eine große Comic-Tradition, die in Deutschland erst jetzt mit der Publikation von einem Klassiker wie Eternauta (Avant-Verlag, 2016) langsam wahrgenommen wird. Der Falklandkrieg spielt eine Rolle in dieser Comicszene als ein Konflikt, dessen Bedeutung in der argentinischen Gesellschaft immer wieder neu diskutiert wird (unter anderem, weil er von der Regierung während der Militärdiktatur ausgelöst wurde). In Kapitel 10 beschäftigt sich die Herausgeberin Tatiana Prorokova mit dem Genozid in Ruanda (1994) anhand Matteo Casalis und Kristian Donaldsons 99 Days (2011). Im Zentrum ihres Interesses steht die traumatische Erfahrung im Krieg und »the ability of war to haunt survivors, living in their memories and thus torturing them psychologically« (CW, 189-190). Schließlich wird der Band mit einem Kapitel von Yasmine Nachabe Taan über die Online-Comics von Mazen Kerbaj zum Libanonkrieg (2006) abgerundet. Kerbaj verfasste vor Ort Blog-Berichte über seine Erfahrungen während des 33-Tage-Kriegs, die später im Buch Beirut Won’t Cry (2017) gesammelt wurden, und zwar mit einer Einleitung von Joe Sacco – was nebenbei bemerkt nicht dabei half, genug Aufmerksamkeit auf dieses beeindruckend gezeichnete Zeugnis zu ziehen.

Ein Schlusswort hätte diesem lesenswerten Band wohl gutgetan. Alles, was als Erkenntnisgewinn zu bezeichnen ist, wird nur in der Einleitung erwähnt, bevor also die Leser_innen die Artikel gelesen haben. In dieser Einführung dekonstruieren die Herausgeber_innen die hierarchische Beziehung zwischen ›periphery‹ und ›center‹, indem sie zum Beispiel zeigen, wie die kleinsten, als ›periphery‹ wahrzunehmenden Comickulturen einen Einfluss auf große, als ›center‹ zu beschreibende Comicmärkte haben können. In dieser Einleitung wird auch die anscheinend selbstverständliche, aber von anderen Forschungen häufig übersehene Anmerkung gemacht, dass ›lokale Kriege‹ keinesfalls ›kleiner‹ oder ›weniger wichtig‹ für die an ihnen Beteiligten sind. In diesem Zusammenhang erscheint mir jedoch eine Behauptung sehr problematisch:

[…] much can be gained by shifting the focus away from these major wars. For one thing, a deep, nuanced look at the periphery allows one to take a fresh look at the center. […] [A] new set of works through which to revisit the scholarship on the representations of large-scale wars. […] Voices from Africa, the Middle East, North and South America, and Asia are necessary for this purpose, especially when placed alongside new narratives from Europe and the United States. (CW, 7)

Es ist an dieser Stelle bedauerlich, dass die Wichtigkeit von so einer zu lobenden Studie über die ›periphery‹ nur in Hinblick auf das, was das ›center‹ davon zunutze machen kann, zu rechtfertigen ist. (Für mich, der aus Brasilien kommt, ist Südamerika schließlich ›center‹ – und wird es immer bleiben.) Damit versäumt dieser Band die Chance, einen wahren dezentralisierten Blick auf die Welt zu bieten. Nichtsdestotrotz füllt Cultures of War in Graphic Novels eine Lücke, indem es sich kleineren, aber deswegen nicht weniger wichtigen Konflikten widmet. Allein aus dieser Perspektive kann die Leserschaft über die sozialpolitischen Kontexte von weniger bekannten Kriegen viel lernen. Ein bereichernder Einblick in die Produktion weniger traditioneller Comickulturen wird mit angeboten. Worauf man sich freuen sollte, wenn man dabei nicht gleichzeitig feststellt, dass so eine einzigartige Studie leider eine komplette Ausnahme bildet.

Ein zweiter Band wäre hier wünschenswert. Vielleicht mit Studien über indonesische Comics? Über die Sklaverei in der Kolonialzeit in Brasilien anhand der Graphic Novels von Marcelo DʼSalete? Über die gezeichneten Tagebücher des serbischen Comiczeichners Aleksandar Zograf während der NATO-Angriffe in Pančevo im Jahr 1999? Über die Rolle von Comics als Protest gegen die Militärdiktaturen in Südamerika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Über politische Cartoons in Griechenland? Am besten dann gleich mit Beiträgen von Forscher_innen mit vielfältigeren Herkünften, um diese gezielte Dezentralisierung auf die Methodologien und Perspektiven unterschiedlichster wissenschaftlichen Kulturen zu erweitern.

 

Cultures of War in Graphic Novels
Violence, Trauma, and Memory
Tatiana Prorokova, Nimrod Tal (Hg.)
New Brunswick (New Jersey): Rutgers University Press, 2018
237 S., 29,95 Dollar (Paperback)
ISBN 978-0-8135-9095-0