Dieses Paradies ist die Hölle

Nachts im Paradies rezensiert von Gerrit Lungershausen

Ein Volksfest, ein Taxi, eine Vielzahl obskurer Nachtvögel. Frank Schmolke beschreibt in Nachts im Paradies den Horror eines Taxifahrers während des Münchner Oktoberfests.

In Episoden, deren Zusammenhang sich erst nach und nach ergibt, erzählt Schmolke von seinen biografisch angehauchten Erfahrungen als nächtlicher Taxifahrer in München. Biografisch ist dieser Comic dadurch freilich nicht – weder trägt der Protagonist Vincent Kutscher den Namen des Autors, noch teilt er seine Physiognomie. Und die geschilderten Ereignisse beruhen nur im Kern auf einigen Erfahrungen, die der Gelegenheitsfahrer Schmolke gemacht hat.

Wer das Oktoberfest nicht kennt, wird es nach der Lektüre dieses Comics sicher auch nicht kennenlernen wollen. Schmolke zeigt die schmutzigen Nachtseiten eines Volksfestes, das aus Menschen Monster zu machen scheint: Zombies drängen um Einlass in Vincents Taxi, Wölfe jagen seine Tochter Anna durch ein menschenleeres Parkhaus: Die Roadnovel, deren Protagonist sich auf seinen nächtlichen Touren beständig im Kreise dreht wie ein Taxifahrer dies notwendigerweise tut, wenn er nach seinen Touren immer wieder zur Station zurückkehrt, enthält auch eine Familiengeschichte um einen Vater und dessen Tochter. Dass Schmolke zunächst in unzusammenhängenden Episoden erzählt, entspricht der Struktur des Taxifahrens so optimal, dass es geradezu natürlich erscheint.

Vincent gerät an absurde Gestalten: betrunkene Wiesn-Besucher, herablassende Geschäftsleute oder die Dunkelmänner der Russenmafia. Dass diese zunächst als Bestien par excellence erscheinen, sich aber bald von ihrem Klischee verabschieden, ist eine der großen Stärken dieses Comics, dessen Cover als Wimmelbild der Nachtseiten einer Gesellschaft daherkommt – und damit gut abbildet, was uns in dem Comic erwartet.

Immer wieder sehen wir die Welt mit Vincents Augen, etwa, wenn die Wiesn-Besucher sein Taxi wie Zombies belagern, oder mit den Augen seiner Tochter, die in den Männern, die sie vergewaltigen wollen, keine Menschen mehr sieht, sondern Wölfe. Überhaupt ist diese Welt kein gutes Pflaster für Frauen, die Opfer von Gewalt, Objekte sexuellen Verlangens oder mehr noch, männlichen Machtphantasien sind.

Die groben Schwarz-weiß-Zeichnungen sind ein Authentizitätsgarant dieser »Geschichte von unten«, weil sie den Anschein erwecken, während der Fahrt entstanden zu sein. Tatsächlich hat Schmolke, wie er selbst angibt, während seiner Fahrten, deren letzte mehr als fünf Jahre zurückliegt, in einem Notizbuch seine Erinnerungen festgehalten, diese skizziert und diese Entwürfe nun ausgeführt. Das München Schmolkes ist dunkel und rau.

Frank Schmolke ist kein Comic-Debütant, sondern seit den 1990ern als Zeichner und Szenarist aktiv, seit 1999 ist er freiberuflich als Illustrator tätig, zum Beispiel im Rahmen verschiedener 3-Sat-Produktionen. Seine kurzen Comics sind bei Zwerchfell, Reprodukt und Edition Moderne verlegt worden, haben aber nie den Weg in die breite Öffentlichkeit gefunden. Dass Nachts im Paradies wesentlich mehr Aufmerksamkeit findet als seine Vorläufer, liegt daran, dass Schmolkes Geschichte vom Rande der Gesellschaft auf Kitsch, Klischees und jede Form von Romantisierung verzichtet und er damit einen der interessantesten Comics des Jahres geschrieben hat.

Zuletzt hatte er mit Trabanten (2013), in dem er den scheiternden Neuanfang eines Münchner Außenseiters schildert, seinen bislang umfangreichsten Comic vorgelegt. In Nachts im Paradies, dessen erste Seiten im Januar 2015 gezeigt wurden, wird der Neuanfang des Protagonisten ans Ende verlegt: Vincent hängt die Mercedes-Autoschlüssel an den Nagel: »Meine Zeit ist vorbei. Ich brauche eine Ausfahrt.« Fortan, so deutet es sich an, möchte er mehr Verantwortung für seine Familie übernehmen – aber auf dem Auto-Rücksitz lauern die Monster seiner Vergangenheit. Und wie das mit Monstern auf der Rückbank so ist – egal, wie schnell man fährt, man wird sie nicht mehr los.

 

Nachts im Paradies
Frank Schmolke (A/Z)
Zürich: Edition Moderne AG, 2019
350 S., 29,80 Euro
ISBN 978-3037311851