Das große Krabbeln: Gus Dirks – »The Bug Artist«

Gus Dirks. Käfer, Kunst & Kummer rezensiert von Jan Roidner

Auf die Suche nach den verlorenen Spuren von Gus Dirks, dem jüngeren Bruder von Rudolph Dirks, begibt sich Tim Eckhorst. In Käfer, Kunst & Kummer unternimmt er den Versuch einer Rekonstruktion des kurzen tragischen Lebens des aus Heide stammenden Zeichners des ›Goldenen Zeitalters‹. Zugleich sichtet Eckhorst dessen neu zu entdeckendes, zwischen Illustration und Comic angesiedeltes Werk, das in der fiktiven Insektenstadt Bugville spielt.

Der an der Kieler Muthesius Hochschule ausgebildete Grafikdesigner und Comiczeichner Tim Eckhorst begibt sich in Käfer, Kunst & Kummer auf die Suche nach dem kurzen tragischen Leben des aus Heide/Dithmarschen stammenden amerikanischen Comicpioniers Gus Dirks (1881–1902). Der heute nur noch Spezialisten bekannte Künstler gehörte einst »zu den erfolgreichsten und beliebtesten Zeichnern seiner Zeit« (12). Eckhorst nahm sich bereits vor einigen Jahren Vita und Werk von Gus’ älterem Bruder Rudolph an, dem deutlich bekannteren Erfinder der Katzenjammer Kids (Katzenjammer, Kids & Kauderwelsch, Deich Verlag 2012).

Der Band ist in der neuen Reihe »BioGraphie« des in der Comicforschung etablierten Berliner Bachmann Verlags erschienen. Im Unterschied zu den USA oder Frankreich sind hierzulande Comicbiografien bislang selten. Prinzipiell ist das Genre problematisch, wie der Schriftsteller Uwe Johnson prägnant diagnostiziert: »Der Versuch […] den Lebenslauf eines Toten und die Ereignisse vor seinem Sterben zusammenzufinden aus Vermutungen, Behauptungen und knappen Zeugenberichten, ein solcher Versuch muß ›schwierig‹ ausfallen.«1 Auch von Dirks’ Leben kann Eckhorst angesichts der dürftigen Quellenlage kein vollständiges Bild liefern: zwangsläufig kommen dem Autor zufolge »immer wieder die Wörter ›vermutlich‹, ›wahrscheinlich‹ und ›vielleicht‹ zum Einsatz« (72).

In fünf Kapiteln skizziert Eckhorst den Weg des Künstlers in die USA, folgt Dirks ersten Schritten als Zeichner in Chicago, seinem Werk vor dem Hintergrund des New Yorker Zeitungskriegs, untersucht Stil, Themen und Figuren und geht der Rezeption nach. Die Kapitel sind reichlich bebildert – meist in schwarz-weiß, zum Teil farbig. Hervorzuheben sind zwei Abschnitte mit Auszügen aus Kinderbüchern. Die schwarz-weißen Reproduktionen aus Picture Book und Bugville Life for Big and Little Folk (beide 1902) zeigen in prägnanten, detaillierten Federzeichnungen Dirks’ Markenzeichen: Die Bilder wimmeln vor komischen Kerbtieren. Bienen, Spinnen, Schmetterlinge – und immer wieder Käfer sind seine Protagonisten. Daher sein Spitzname: »The Bug Artist«.

Der Autodidakt orientiert sich an Wilhelm Busch, den Münchener Bilderbögen und den Fliegenden Blättern, speziell Arbeiten von Karl Pommerhanz. Seine skurrilen Terrarien voller Insekten und Reptilien, die bisweilen an den holländischen Barockmaler Otto Marseus von Schrieck (1619/20–1678) erinnern, veröffentlicht der erst 15-jährige Zeichner zunächst als Cartoon oder One-Panel-Gag in Unterhaltungsmagazinen wie Life, Judge oder Puck. 1897/98 folgt er Rudolph – inspiriert vom sensationellen Erfolg der Katzenjammer Kids – nach New York, Epizentrum des modernen Zeitungscomics. Wie sein Bruder, Richard F. Outcault, James Swinnerton, Frederick Burr Opper oder Winsor McCay gehört Gus rasch zu den Starzeichnern, die für die Yellow-Press-Barone Hearst und Pulitzer publizieren und der neuen Kunstform zum Durchbruch verhelfen. Eine Zeit lang war Gus »bei der Leserschaft sogar beliebter als […] Rudolph« (54). Im Alter von nur 21 Jahren begeht er in seinem New Yorker Studio Suizid. Die Gründe, ob aus Überarbeitung, einer Depression oder Liebeskummer, bleiben offen.

Obwohl Dirks für die komischen Tiermenagerien seiner kleinen anthropomorphen Helden die Insektenstadt Bugville erfindet – vermutlich zuerst 1898 in Judge, der Durchbruch erfolgt mit der Serialisierung in Hearsts Sonntagszeitungen2 –, möchte Eckhorst ihn nur begrenzt zu den Pionieren der funny animals wie Herrimans Krazy Kat, Messmers Felix the Cat oder die Figuren des Duckburg-Kosmos zählen. Der Einwand, dass Gus, keine Tiere ausgesucht habe, »die gemeinhin als […] liebenswert« (60) gelten, ist subjektiv. Überzeugender schon der Hinweis, dass es Dirks mehr um die zeichnerische Gestaltung von Mimik und Gestik seiner Figuren als um eine witzige Darstellung menschlicher Charakterschwächen ging. Die Komik in Bugville liegt eher im Zeigen von Stereotypen als in der Desavouierung menschlicher Schwächen. Er bevorzugt prinzipiell das situative Bild vor der erzählten Geschichte und bezeugt so seine Nähe zur Karikatur und dem Witzbild des 19. Jahrhunderts. Auch in größeren Formaten, den Sundaypages, bildet er keine Panelfolgen, sondern reiht Einzelbilder voll komischer Momente aneinander oder gestaltet tumultuarische All-over- bzw. All-in-one-Pages – in ihrer Detailliertheit und Figurenvielfalt dem Wimmelbild verwandt.

Resümierend stellt sich die Frage, welchen Beitrag Gus Dirks’ zur Geschichte des Comics geleistet hat. Zumal Eckhorst konstatiert, dass er »formal keine Neuerungen« eingeführt habe und denen der Kollegen »nur sehr zaghaft« (66) gefolgt sei. Wesentliche Elemente des klassischen Zeitungsstrips wie Sprechblasen, Speedlines oder Symbole kommen nur selten vor. Dirks’ Arbeiten wirken dadurch oft statisch und »teilweise wenig dynamisch« (66). Ohnehin liegt kein konsekutiv erzählter Comicstrip vor, wie sich auch keine ›stehenden Figuren‹ (D. Grünewald) in Bugville finden. Seine Bilderanordnung ist »eigenwillig und […] weniger streng« (40) als bei anderen Pionieren. Stilistisch sind seine Zeichnungen zwischen Illustration, Cartoon und Comic anzusiedeln. Diese Entgrenzung, der Verzicht auf das ordnende Panelraster, macht sie in ihrer Hybridität künstlerisch aber auch spannend. So finden sich teils sehr extravagante Panelrahmen: neben dekorativen, ungewöhnliche geometrische Formen, wie Panels, die an Altäre erinnern – etwa als Triptychon samt Predella und Retabel. Die Frage, ob sich Dirks angesichts solcher Bildformen mit den Romantikern C. D. Friedrich oder Runge beschäftigt hat, wäre zu klären.

Gerade weil sich Dirks’ Werk der damaligen Normierung und Standardisierung der Form entzieht, wirken seine Arbeiten verblüffend zeitgemäß. Gerade weil er der Illustration und dem Cartoon verhaftet blieb, sicherte er sich eine größere Freiheit beim Layout, die in der Erzählweise der Graphic Novel, etwa bei Posy Simmonds, Craig Thompson oder Kerascoët wieder zum Einsatz kommt. Überhaupt ist festzuhalten, dass sich hier die Revolution des neuen Bildmediums exemplarisch zeigt: der Wandel von Karikatur, Illustration und Cartoon aus den Magazinen des 19. Jahrhunderts zum modernen Comic der Yellow Press. Insofern lässt sich auch Gus Dirks mit Fug und Recht als Pionier bezeichnen. Seine Figuren aber sind »größer als sein Name« (78): Im Comicmagazin Pure Fruit # 11: Gus Dirks Remixed (2016) haben junge Zeichner die Geschichten aus Bugville transformiert und weitergezeichnet: eine wunderbare Hommage an diesen lange vergessenen Künstler des ›Goldenen Zeitalters‹.

Bemängeln muss man das nachlässige Lektorat des Bändchens. Es ist leider ein Symptom bei Verlagen, dass Manuskripte nicht die angemessene Sorgfalt erhalten. Neben orthografischen Lässigkeiten gravierend, wenn sich faktische Fehler einstellen: etwa durch das Vertauschen der Geburtsdaten der Brüder. Hier muss man dem Verlag – trotz bekannter Sparzwänge – ein Überdenken des wissenschaftlichen Lektorats sehr empfehlen.

  • 1] Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Poetikvorlesungen. FfM 1979 (=Suhrkamp)
  • 2] Die Serie erschien u.a. im New York Journal, dem Chicago American und dem San Francisco Examiner – gelegentlich auch unter dem Titel Latest News from Bugville oder Latest News from Bugtown. Meistens taucht der Titel auf der Sonntagsseite aber gar nicht auf.

Gus Dirks
Käfer, Kunst & Kummer
Tim Eckhorst
Berlin: Ch. Bachmann Verlag, 2016
102 S., 16 Euro
ISBN 978-3-941030-23-7