Den Erinnerungen auf den Grund gehen

Der Junge lebt im Brunnen rezensiert von Julia Reichwein

In einem Brunnen, tief im Wald, lebt ein Junge. Dieser Junge stellt den Schlüssel zur Vergangenheit dar, zu Erinnerungen – persönlichen wie kollektiven –, die bereits vergessen schienen. Nur wer sich traut, die Mauern des Brunnens zu überwinden, dem erzählt der Junge seine Geschichte – und das fast komplett ohne Worte.

Von einem Brunnen aber ist zunächst keine Spur in diesem Comic. Stattdessen beginnt Der Junge lebt im Brunnen (2018) von Alexander Kaschte und Jaroslaw Gach mit einem Mädchen, das bei ihren Großeltern ihre scheinbar glückliche Kindheit verbringt. Doch der Schein trügt insofern, als dass etwas Bedeutsames in ihrer Welt fehlt: ihre Eltern. Aus der daraus resultierenden Einsamkeit heraus verspürt sie den Wunsch, in den nahe gelegenen Wald zu gehen. Und hier kommt der Junge ins Spiel.

Mitten im Wald findet das Mädchen einen Brunnen. Auf dessen Grund erblickt sie einen Jungen, der sie zu sich herunterbittet. Aber statt seiner Aufforderung nachzukommen, geht sie zunächst wieder nach Hause. Jedoch lässt sie ihre Begegnung mit diesem Jungen nicht mehr los; sie kehrt wieder zum Brunnen zurück, sodass der Junge ihr seine Geschichte erzählen kann.

Diese intra-diegetische Erzählung beinhaltet eine Konversion von Mündlichem zu Bildlichem; zwar wird auf einem Panel gezeigt, dass der Junge dem Mädchen von seinen Erinnerungen erzählt, doch wird diese Geschichte den Leser_innen ausschließlich in Bildern präsentiert. Das Feuer, das seine Eltern das Leben gekostet hat, könnte nicht in lebendigeren Farben brennen; dessen helle Gelb- und Orangetöne lenken die Aufmerksamkeit der Leser_innen sofort auf den schmerzhaften Verlust seiner Eltern. Nach deren Tod lebt der Junge bei seinem Onkel, der ihn zu harter körperlicher Arbeit zwingt. Im Gegensatz zu dem hellen Feuer ist diese finstere Zeit in düsteren Blau- und Grautönen umgesetzt worden. Der Gebrauch einer dunklen Farbpalette verweist an dieser Stelle jedoch nicht ausschließlich auf das physische wie psychische Leid des Jungen. Stattdessen wird im Comic durch die variierende Helligkeit der Farben auch auf unterschiedliche Epochen hingewiesen: Während sich die in bunten Farben gestaltete extra-diegetische Geschichte im 20. Jahrhundert abspielt, stammen die Erinnerungen des Jungen aus dem dunklen Mittelalter. Das Ende seines Elends scheint in Sicht, als der Onkel dem Jungen eine Goldmünze schenkt, die er in den Wunschbrunnen werfen darf. Dieser, so heißt es, erfüllt jeden Wunsch, wenn man eine Münze in den Brunnen wirft. In der Hoffnung, seine Eltern wiederzusehen, tut der Junge genau dies, doch ehe sich sein Wunsch erfüllen könnte, wird er von seinem Onkel in den Brunnen gestoßen und stirbt. Von da an erhalten die Farben eine besondere kommunikative Funktion; so lässt der hellblaue Farbton des Jungen keinen Zweifel daran, dass er seitdem als Geist am Grunde dieses Brunnens weiterlebt.

Die eigentliche Geschichte ist recht kompakt; erst durch die wortkarge Gestaltungsweise des Comics gewinnt sie an Komplexität. So scheint es zunächst nur um ein Mädchen zu gehen, das in einem Brunnen einen Jungen erblickt, doch repräsentiert dieser Junge das Unbewusste in der Psyche des Mädchens. Sie selbst kann sich nicht mehr daran erinnern, wie sie ihre Eltern verloren hat; ihre Erinnerungen sind hinter den Mauern des Brunnens verschollen. Erst als sie dazu bereit ist, die Mauern zu überwinden, kehren die einst verdrängten Erinnerungen in Form der Erzählung des Jungen wieder zurück. Des Weiteren thematisiert der Comic eine doppelte Verdrängung: neben der der eigenen Psyche des Mädchens wird ebenso eine kollektive Verdrängung der Erinnerungen an eine von Elend geprägte Epoche angesprochen. Wie durch die intra-diegetische Erzählung klar wird, hat es den Brunnen bereits im Mittelalter gegeben; seitdem sind jedoch Jahrhunderte vergangen, in denen niemand es gewagt hat, in ihn hinein zu blicken. Auch hier wird die Verdrängung non-verbal durch eine plötzliche Veränderung im Zeitrhythmus dargestellt – bei dem Abstieg des Mädchens in den Brunnen vergehen Sekunden, während der Fokus auf gleich fünf Panels auf dem Heranwachsen eines Waldes um den in Vergessenheit geratenen Brunnen herum gelegt wird.

Jedoch führt die Komplexität des Visuellen zudem zu einer ambivalenten Erzählung. So wirft unter anderem die finale Entscheidung des Mädchens, noch einmal in den Brunnen zu steigen und mit dem Jungen zusammen in das Wasser abzutauchen, viele Fragen auf: Ist ihr Abstieg rein metaphorisch, so gesehen eine sinnbildliche Versöhnung mit ihren Erinnerungen? Oder ist ihr Abtauchen diegetisch real und somit als Suizid zu verstehen? Die Grenzen, die an dieser Stelle der Bildsprache gesetzt werden, mögen zunächst für Verwirrung sorgen. Doch regt der Comic gerade durch seine stille Darstellung sowohl von Ereignissen als auch von unausgesprochenen Gedanken und Gefühlen der Charaktere längerfristig zum Nachdenken an.

 

Der Junge lebt im Brunnen
Alexander Kaschte (A), Jaroslaw Gach (Z)
o. O.: Insektenhaus, 2018
48 S., 19,95 Euro
ISBN 978-3981951806