Das Konzept ›Liebe‹ erklärt mit Britney, Whitney – und Wissenschaft

Der Ursprung der Liebe rezensiert von Kerstin Howaldt

Liv Strömquists Der Ursprung der Liebe thematisiert das Konzept der Grenze auch abseits comicspezifischer Fragen wie der nach der Panelgrenze. Etwa, wenn behauptet wird, dass ein Junge sich »von seiner Mutter abgrenzt« (11) um seine, »Identität aus[zu]formen«, oder wenn der Comic in dem Kapitel »Gry weiß, wo die Grenze ist« der historischen Entwicklung des Diskurses über Liebe nachspürt. Dabei ist es der Comic selbst, der die drängende Frage nach Abgrenzung aufwirft, nämlich: wo verläuft die Grenze zwischen einer kritischen Auseinandersetzung mit Genderstereotypen und der wirkmächtigen (Re)Produktion von Rollenbildern, und: wie wichtig ist das? Darf ein selbstreferentieller und (selbst)ironischer Comic die Wiederholung von Klischees zu seinem Merkmal machen? Oder kann er am Ende einfach nicht anders?

     Abb. 1: Der Aaal verbildlicht die Kritik an Geschlechterrollen.

In durchgängig schwarz-weiß gehaltenen Bildern spürt Strömquists Comic dem Konzept der Liebe in diversen zeitgenössisch und historisch basierten Episoden nach. So werden unter anderem die Beziehungen bekannter Paare – wie Nancy und Ronald Reagan, Lady Di und Prinz Charles, Whitney Houston und Bobby Brown, Britney Spears und Kevin Federline – ironisch-kommentierend analysiert, häufig unter Bezugnahme auf wissenschaftliche Quellen. Besonders gut lässt sich die Verschränkung von Populärkultur und Wissenschaft in dem oben bereits erwähnten Kapitel »Gry weiß wo die Grenze ist« nachvollziehen. Hier zitiert Strömquist eine Aussage der schwedische Fernsehmoderatorin Gry Forsell aus dem Jahr 2008: »Es ist OK, sich mit einem süßen Typen zu unterhalten und auf einen Drink eingeladen zu werden. Solange man weiß, wo die Grenze ist und wo man hingehört, wenn der Abend vorbei ist« (53).  Das darauffolgende Panel wirft sogleich die Frage auf, die für den Comic von zentraler Bedeutung ist: »Von was für einer Grenze ist hier die Rede? Woher kommt diese Grenze? Und woher wissen Gry Forsell – und alle anderen – wo sie verläuft?« (53). Ausgehend von Forsells Aussage und dieser Frage zeichnet der Comic die Idee des »sexuellen Eigentumsrechts« über den Verlauf der Jahrhunderte bis in die vorchristliche  Mythologie nach. Der Ausdruck des ›sexuellen Eigentumsrechts‹ basiert darauf, dass Konzepte wie ›Liebe‹ und ›zusammen sein‹ ausschließlich mit Blick darauf denkbar erscheinen, einen exklusiven Zugang zum Körper der Partnerin/des Partners zu haben. Mit Bezug auf das Konzept Liebe meint ›eine Grenze ziehen‹ also die Schaffung eines imaginären Raumes, der ausschließlich der Paarbeziehung vorbehalten bleibt. Im Verlauf des Kapitels werden der Exklusivitätsgedanke und die damit verbundenen Grenzziehungen zwischen der Partnerschaft und ›den anderen‹ als historisches Konstrukt entlarvt und anhand symptomatischer Einzelfälle Bilder von (zeitgenössischen) Geschlechterstereotypen gezeichnet. Es wird deutlich, dass Diskurse über ›Liebe‹ nahezu ausschließlich auf historischen Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit basieren. Hierbei nimmt Der Ursprung der Liebe kontinuierlich Bezug auf u.a. Arbeiten von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (Das ganz normale Chaos der Liebe) oder Randall Collins (Gender, Love and Property).

   Abb. 2: Wiederholung verdichtet die soziale Konvention…

Dem Comic gelingt die klare Abgrenzung von diesen Konstruktionen durch seine pointierten Beobachtungen und den daraus resultierenden ironischen Übertreibungen zwar an den meisten Stellen, an anderen verlässt sich Der Ursprung der Liebe allerdings selbst auf eben jene Stereotype, die er zuvor noch so genüsslich seziert hat. Denn auch wenn eine kritische Auseinandersetzung mit etablierten sozialen Konventionen es – mehr oder weniger – in Kauf nehmen muss, dass sie diese zugleich reproduziert, finden sich in Strömquists Comic auch Stellen, wo der Text selbst aktiv Stereotype produziert, zum Beispiel, wenn es darum geht, dass das Konzept ›Liebe‹ heutzutage »durch das freie Marktsystem an sich produziert wird« (68). In einer Caption heißt es hier: »Selbst, wenn man bereits mit jemandem zusammen ist, können diese Verhandlungen fortfahren. Man selbst ist vielleicht absolut sicher, dass man den richtigen gefunden hat, während der andere noch immer Ausschau hält, ob nicht vielleicht jemand Besseres vorbeikommt, der sich für einen interessiert« (71). In den Zeichnungen sind es dann wieder die weiblichen Figuren, die ›schon den richtigen gefunden‹ haben, während die männlichen Figuren sich dem Zweifel hingeben dürfen. Dies rekurriert natürlich auf die zuvor durchweg kritisch beschriebene, historische Entwicklung des Konzeptes ›Liebe‹, dennoch hätte hier bewusst ein Irritationsmoment geschaffen werden können, der sich das Text-Bild Verhältnis des Mediums Comic zunutze macht und diese Stereotype invertiert. Schließlich geht es an dieser Stelle des Comics nicht länger um das Wiedergeben und den Nachvollzug historisch etablierter Rollenbilder, sondern um den zeitgenössischen Blick auf selbige.

   Abb. 3:  …eines gemeinsam konsumierten Heißgetränks.

Am besten gelingt die Kritik an Geschlechterrollen, wenn sie sich aus Juxtapositionen speist, die sich die Interaktion von Text und Bild im Comic zunutze machen. So heißt es zum Beispiel in der Episode über die schwedische Autorin Victoria Benedictsson und ihre Ehe mit einem »50-jährigen Postbeamten«: »Es war schlimm. Sie musste bei ihm in Hörby leben. Sie musste in seinem hässlichen Haus wohnen. Tagsüber musste sie für Ihn Aal und andere südschwedische Delikatessen zubereiten. Nachts musste sie mit ihm ins Bett« (91). Sex in der Ehe des 19. Jahrhunderts gerät somit zu einem von vielen Dingen, die Frauen eben ›tun mussten‹. In dem Panel selbst ist nur ein grinsender Aal zu sehen (Abb.1), der tatsächlich die in der Caption entstehende Kritik zutreffend ins Bildhafte übersetzt. Der Comic, um zu der eingangs formulierten Frage nach der eigenen Abgrenzung zu existierenden Rollenbildern zurückzukommen, kann also durchaus anders!

  Abb. 4: An anderer Stelle steht Wiederholung

  lediglich für sich selbst.

In allen Episoden bedient sich Der Ursprung der Liebe  der Technik des Zitierens, um sie an einigen Stellen gleichzeitig zu kritisieren; etwa, wenn die Autorin in einem Panel behauptet »Der Soziologe Jürgen Habermas vertritt die Ansicht, dass das Leben in einer kapitalistischen Kultur dazu führt, dass wir uns selbst – und andere Menschen – als Waren behandeln«, nur um dann am Panelrand zu konzedieren »Leider hier ohne Quellenangabe, denn ich schaffe es einfach nicht, Habermas gründliche zu lesen. Der schreibt echt kompliziert☹« (88). Das Eingeständnis, der hier zitierten Stimme keinem Ursprung zuordnen zu können, die Aussage also vermeintlich nicht beglaubigen zu können, wird als Kritik an einer Zitiertechnik lesbar, die sich alleinig auf die Wirkmacht bestimmter Quellen bzw. Namen verlässt und wiederholt zitierte Aussagen zu Gemeinplätzen verkommen lässt. Gleichzeitig geht der Text auf diese Weise eine geschickte Komplizenschaft mit seinen Leser_innen ein, die diese sicher auch dazu verleitet, durch die an unzähligen anderen Stellen korrekt zitierten Quellen auf den wissenschaftlichen Anspruch der Autorin zu vertrauen.

Kontrovers lässt sich der Hang des Textes zu Wiederholungen diskutieren. Rosa Wohlers hat in ihrer Rezension von Strömquists Der Ursprung der Welt (http://www.closure.uni-kiel.de/closure4/wohlers) bereits auf die Redundanzen zwischen Captions und Sprechblasen hingewiesen. Solche Redundanzen finden sich auch in Der Ursprung der Liebe. Auf argumentativer bzw. narrativer Ebene zeigen sich die Wiederholungen mal als komisch-kritisches Stilmittel, mal als eher plakative Emphase. Im Fall der ›verkrampften Tasse Kaffee‹ (75, 98) (Abb. 2 und 3) gelingt Wiederholung. Immer wieder neu kontextualisiert verdichtet diese Phrase das Aufrechterhalten sozialer Konventionen nach gescheiterten Beziehungen jeglicher Art in einem einzigen Satz. Im Falle des »Ich sitze auf dem ganzen Cash! « (62) rückt die mehrfache Wiederholung hingegen einfach nur recht platt die Idee männlicher Dominanz in den Vordergrund (Abb. 4).

Abb. 5: Spiel mit der Materialität des Papiers.

Sehr gelungen ist wiederum, wie der Comic nicht nur auf sich selbst, sondern insbesondere auf seine materielle Beschaffenheit verweist. Neben eher ›klassischen‹ Formen der Selbstreferenz – wenn zum Beispiel eine Figur bemerkt, sie »habe nämlich in einem Comic von Liv Strömquist gelesen, dass es in Tibet polyandrische Beziehungen gibt, ohne dass sich jemand darüber aufregt«  (67) – gerät das Spiel mit dem Papier in den Blick und zwar in Form der ›Bilder zum Ausschneiden‹. Auch wenn das wohl kaum eine Leser_in wirklich tun wird, reiht sich der Comic an dieser Stelle in eine Tendenz zeitgenössischer Literatur (wie Vladimir Nabokovs The Original of Laura, Ali Smith’ How to Be Both oder Anne Carsons Nox) ein, die die Materialität des Buches betont und in einen Gegensatz zum Trend der Digitalisierung tritt. Hier verdeutlicht sich auch einmal mehr das Spiel des Comics mit Grenzen; genauer: es geht um die Grenze des Papiers (Abb. 5). Würden die Leser_innen der Aufforderung folgen, würden sie unweigerlich die bestehenden Panelgrenzen verändern, ›dem Papier eine Wunde zufügen‹. Gerade weil Leser_innen jedoch in der Regel diese Grenzen akzeptieren und das Bild nicht ausschneiden, gerät das Fragile jeglicher Art von Grenzziehung in den Blick. Das Material greift somit das Thema des Textes auf: sowohl die (Akzeptanz der) Grenzziehungen in Beziehungen als auch die Grenzen des Papiers erweisen sich als konstruiert; sie können (und müssen!) daher immer wieder neu in Frage gestellt werden.

Dadurch, dass Der Ursprung der Liebe an einigen Stellen etwas subtiler vorgehen und mehr in die Lesekompetenz seiner Rezipient_innen vertrauen dürfte, ist der Comic eine durchaus herausfordernde Auseinandersetzung mit all den implizit und explizit formulierten Bedingungen und Vorannahmen, aus denen sich das zeitgenössische Konzept der Liebe speist und innerhalb derer sich die oder der Einzelne stets neu verorten muss. Dabei, so der finale Kommentar des Comics, »Viel Glück« (133).

 

Der Ursprung der Liebe
Liv Strömquist
Berlin: avant verlag, 2018
136 S., 20,00 Euro
ISBN 978-3-945034-89-7