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»Alles nichts als Karikatur«
Nicolas Mahlers Bernhard-Adaption Alte Meister und die Anti-Mimesis-Kunst

Sunghwa Kim (Seoul)

Nicolas Mahlers Alte Meister: Die Literaturadaption im Comic

  Abb. 1: Nicolas Mahler: Alte Meister, 34.

Nicolas Mahlers Comic Alte Meister (2011), der den gleichnamigen Roman von Thomas Bernhard (1985) ins Grafische umsetzt, gilt im deutschsprachigen Literaturbetrieb als Meilenstein und ist der erste Comic, der vom Suhrkamp Verlag publiziert wurde. Mahler wurde mit dem Preis der Literaturhäuser 2015 ausgezeichnet und als ein Autor gewürdigt, »der sich in innovativer Form mit der Literatur auseinandersetzt und in sehr eigenständigen und kunstvollen Formen der Vermittlung das Publikum dafür zu gewinnen weiß« (Anon. 2015).

Dass ein Roman Bernhards als Comic adaptiert wurde, dürfte für seine Leserschaft eine ebenso große Überraschung dargestellt haben wie die Tatsache, dass dieser Comic ausgerechnet in einem für die Publikation von Literatur und wissenschaftlichen Arbeiten bekannten Verlag erschienen ist. Eine ereignisarme, also für Bernhard typische Handlung, eine nicht-lineare Plotstruktur, die als ›Geschichtenzerstören‹ bekannten absatzlosen Texte: All dies in einen Comic umzusetzen, stellt eine enorme Herausforderung dar, die zu der Frage Anlass gibt, ob bzw. wie der Comic als Form überhaupt in der Lage ist, den Bernhard’schen Text zu ›re-präsentieren‹. In einem von mir geführten Interview weist Mahler selbst auf diese Problematik hin: »Es gibt die Leute, die sagen, wieso man überhaupt eine Literaturadaption braucht, sowieso gibt’s schon den Originaltext. Wozu?«

Ob die Literaturadaption im Comic eine ›Re-präsentation‹ bzw. ›Illustration‹ zum literarischen Prätexts darstellt, lässt sich im Rahmen der Adaptions- und Comicforschung beleuchten. Wie die Forschung in den letzten Jahrzehnten zeigt, stehen Adaptionen nicht mehr im untergeordneten Verhältnis zum Ur-, Original- bzw. Prätext. Dies gilt insbesondere für filmische Adaptionen, die in der Vergangenheit als nur sekundäre Produkte betrachtet wurden, denen es nicht gelang, die Originalität und Authentizität der literarischen Vorlage zu repräsentieren. Die Literaturadaption im Comic wurde anfangs als Illustration im Sinne einer ergänzenden Nachbildung, eines visuellen Zusatzes verstanden, wobei die literarische Vorlage den Vorrang behielt: Der schriftliche Text verhielt sich zum Bild wie das Original zur Nachbildung.

In A Theory of Adaptation (2006) erwähnt Linda Hutcheon die Problematik des »fidelity criticism«, die die kritische Orthodoxie besonders bei der Behandlung der kanonischen Werke in der älteren Adaptionsforschung beherrschte. Hutcheon sieht dagegen die Adaption als »formal entity or product« an und definiert sie als »repetition, but repetition without replication« (Hutcheon, 7). Die Bezeichnung »entity« impliziert die Individualität der Adaption. Als ›Wiederholung ohne Nachbildung‹ ist die Adaption eine »(re-)interpretation and creation« und eine »form of intertextuality« (ebd., 8). Auf die ›intertextuelle‹ Beziehung der Adaption im Comic weist auch Schmitz-Emans hin. Ihr zufolge bezieht sich der »Literatur-Comic« »auf einen literarischen Text (oder mehrere)« und zwar in einer Weise, »die der Beziehung zwischen Hypertext und Hypotext im Sinne GĂ©rard Genettes analog ist« (Schmitz-­Emans, 11f.). Unter dieser Voraussetzung wird der literaturbezogene Comic nicht mehr nur auf solche Werke eingeschränkt, die den literarischen Prätext handlungsspezifisch ›werktreu‹ illustrieren.

Das heißt, diese Konzeption für die Literaturadaption im Comic stellt weder eine Zusammenfassung bzw. ein Ersatzmittel zur Erfassung des komplexen literarischen Texts dar, noch ein sekundäres Produkt, das aus dem Originaltext lediglich abgeleitet ist. In diesem Sinne lässt sich an Mahlers Alte Meister exemplarisch die Möglichkeit des Comics als einer autonomen Kunstgattung und als einer Adaption zeigen, die sowohl die ästhetischen und stilistischen Komponenten, als auch die Thematik der literarischen Vorlage übernimmt, sich zugleich aber vom Prätext abhebt. Im Folgenden werden deshalb die kompositorischen Mittel in der Comicgestaltung hinsichtlich einiger ausgewählter Aspekte des Bernhard’schen Erzählstils analysiert und selbstreferenzielle bzw. metafiktionale Komponenten in der Bearbeitung Mahlers behandelt.

Die grafische Umsetzung der Bernhard’schen Sprachkunst und Metafiktionalität im Comic

  Abb. 2: Nicolas Mahler: Alte Meister, 103.

Der Roman Alte Meister wird durch den beobachtenden Ich-Erzähler Atzbacher erzählt, »der selbst dem Geschehensraum angehört, in einem durchgehenden Erinnerungsmonolog, […], in episodischer, achronischer Folge von seinem Erlebnis mit einem KĂĽnstler, das ihn zur Aufzeichnung veranlaĂźt hat« (Huntemann, 46). Der Privatgelehrte Atzbacher verabredet sich mit dem Musikkritiker Reger fĂĽr halb zwölf Uhr im Kunsthistorischen Museum, kommt aber eine Stunde frĂĽher, um Reger zu beobachten. Reger sucht seit 36 Jahren jeden zweiten Tag das Kunsthistorische Museum auf, »um auf der Sitzbank im Bordone-Saal Platz zu nehmen« (TB, 22) vor dem Bild WeiĂźbärtiger Mann von Tintoretto. Der Museumbesuch ist fĂĽr Reger ĂĽber die Zeit eine »Geistesgewohnheit« (TB, 26), »eine Gewohnheit zum Ăśberleben« (TB, 25) geworden, die ihn nach dem Tod seiner Frau gerettet hat. Den ganzen Roman hindurch ĂĽbt er konsequent rĂĽckhaltlose Kritik an der Kunst, »armselig ist diese Kunst, weiter nichts« (TB, 63). Nach der ununterbrochenen kritischen Tirade ĂĽber die Verabsolutierung der Kunst wird der eigentliche Beweggrund des Treffens erst am Ende des Romans genannt: Reger wollte mit Atzbacher zum Anschauen von Heinrich von Kleists TheaterstĂĽck Der zerbrochene Krug ins Burgtheater gehen. Vom Kunsthistorischen Museum gehen die beiden dorthin, verlassen aber nicht den Orbit der Monotonie des Lebens. Der letzte Satz des Romans – »Die Vorstellung war entsetzlich« (TB, 311) – impliziert, dass Kunst zum Ăśberleben unentbehrlich ist, aber keine endgĂĽltige Erlösung bieten kann. 

Nach Markwardt liegt das Charakteristikum Bernhard’scher Poetik in Alte Meister darin, dass sie »nicht nur inhaltlich thematisiert, sondern gleichzeitig auf motivischer, textstruktureller und stilistischer Ebene performativ vorgefĂĽhrt wird« (Markwardt, 403). Hierbei ist auffällig, dass Bernhards Stil auch die Adaption Mahlers betreffen, die die ästhetischen und narrativen Charakteristika des Bernhard’schen Texts in die comicspezifischen Formen mit kompositorischer Präzision umsetzt. Hier sind der ereignisarme Handlungsablauf, die dissoziierte Chronologie, das extrem zeitdehnende Erzählen und die Inquit-Form zu nennen. Die Wartezeit von halb elf bis halb zwölf Uhr, die Atzbacher Reger beobachtend verbringt, nimmt die Hälfte des Romans ein. Die Handlung entwickelt sich ereignisarm, ist auf den inneren Bewusstseinstrom von Atzbacher fokussiert und besteht aus seinem Monolog der freien Assoziation ungeordneter fragmentarischer Erinnerungen. Die mit dem rhythmisch wiederholten Wort »lebenslänglich« hervorgehobene Verschlossenheit und Monotonie von Regers Leben ist unter Bezugnahme auf den Bordone-Saal als allegorischer Raum zu interpretieren, der in der Comicgestaltung die Verschlossenheit und die Monotonie des Lebens durch die einförmig wiederholte Komposition des Panels und die gleiche Größe und Positionierung der Figur dargestellt wird (NM, 33–39). 

Die ›Bordone-Saal-Sitzbank‹, die motivisch auf das Leben Regers anspielt, wird mit den Worten »Hunderte / Male / gesagt / hat« (NM, 103) in Wiederholung gezeichnet, wodurch die Zeit im Bordone-Saal als ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ visualisiert wird (Abb. 2). Hinsichtlich der verzögerten Zeit erzeugt die ganzseitige Panelform den Effekt, die Erzählzeit auszudehnen, wohingegen die mehrfache Verwendung der Panels auf einer Seite das Tempo zu erhöhen scheint. Zudem spielt der im Comic durchgehend verwendete Blocktext eine wichtige Rolle im Narrativ, die sich zum einen fĂĽr den extradiegetischen Erzählerstandpunkt und seinen Monolog in der Erinnerung ausspricht. Zum anderen spitzt der Blocktext teilweise die Indirektheit der Beobachter-Distanz zur Figur Reger zu, was im Prätext durch die Inquit-Form »so Reger/sagte Reger« in Wiederholungen stilisiert ist. Entspricht die Sprechblase in der Comicform dem AnfĂĽhrungszeichen, wodurch die Rede der Figur unmittelbar mitgeteilt wird, so setzt der Blocktext die Distanz zur Diegese als inneren Monolog um. 

Hinzu kommen selbstreferenzielle bzw. metafiktionale Komponenten in der Bearbeitung Mahlers, die hier in Bezug auf »die BloĂźlegung der Artifizialität« und »die illusionsabbauende Narrativik« (Wolf, 220) betrachtet werden können. Wolf weist hinsichtlich der illusionsabbauenden Narrativik auf folgende vier Aspekte hin (ebd., 212–214): 

a. Autoreferentialität und Metafiktion 
b. Entwertung der Geschichte 
c. Auffälligkeit der Vermittlung 
d. Tendenz zur Komik

Die Kategorien b bis d lassen sich auf den Bernhard’schen Prätext beziehen. Das ›geschichtenzerstörende‹ Erzählen mit den rhetorischen (Wiederholungen, Parallelismen, Übertreibungen) und stilistischen (die überlagerte Erzählinstanz, die Inquit-Form, die achronologische Zeit, die Selbstironie des Protagonisten) Mitteln beeinträchtigt die Konzentration auf ›histoire‹, wobei die ereignisarme Plotstruktur und das hochkünstliche Narrativ in Übereinstimmung mit der Thematik des Romans den gesteigerten ästhetischen Effekt erzeugen.

Abb. 3: Lucas Cranach d.Ă„.: Adam und Eva im Garten Eden, 1530.

In der Adaption Mahlers lässt sich die Kategorie »Autoreferentialität und Metafiktion« an der typischen Figur des Comiczeichners Mahler belegen, die an Stelle des Erzählers Atzbacher im Comic auftritt. Der Comiczeichner setzt sich selbst als Figur beobachtend, berichtend und begegnend in Bezug zur Figur Regers; die Begegnungsszene am Ende wird im Comic auf 16 Seiten ohne Blocktext gezeichnet und stellt die spannungsvolle Klimax der letzten drei Seiten des Romans dar. Neben der Autoreferenz im Comic kann der explizit betonte Bearbeitungsprozess des Comiczeichners als repräsentativ für die metafiktionalen Elemente erachtet werden. Die klassischen Werke des Wiener Kunsthistorischen Museums, die im Prätext teilweise nicht erwähnt sind, werden im Comic unmittelbar veranschaulicht, der sie rückhaltlos ›karikiert‹ bzw. absichtlich in eine unvollständige, fragmentarische Form setzt. Die Motive im Roman wie »Umblättern« (TB, 39), und »Alles zur Karikatur zu machen« (TB, 117) werden gespiegelt im Bearbeitungsprozess, den ›beliebig‹ in verkürzter Form von Mahler zitierten Bernhard’schen Text und die in Verzerrung gezeichneten Gemälde (vgl. Abb. 3 und 4). Die ›umblätternde Adaption‹ Mahlers, das Zitieren des beliebig ausgewählten Prätexts, korreliert mit dem relevanten Motiv des Romans und setzt zugleich Mahlers eigenen Bearbeitungsprozess in Szene.

Ich bin mehr Umblätterer als Leser, müssen Sie wissen, und ich liebe das Umblättern genauso wie das Lesen, ich habe in meinem Leben millionenmal mehr umgeblättert, als gelesen, aber am Blättern immer wenigstens so viel Freude und tatsächliche Geisteslust gehabt, wie am Lesen. Es ist doch besser, wir lesen alles in allem nur drei Seiten eines Vierhundertseitenbuches tausendmal gründlicher als der normale Leser, der alles, aber nicht eine einzige Seite gründlich liest [...]. Wer alles liest, hat nichts begriffen (TB, 39f.).

  Abb. 4: Nicolas Mahler: Alte Meister, 61.

Gemäß einer »gründlichen Lektüre der drei Seiten« werden die verschiedenen Thematiken im Prätext (Österreich / Wien-Kritik, Erinnerung an die Kindheit etc.) in der Adaption reduziert auf Kunst, alte Meister und das Leben Regers, mit denen sich der Comic intensiv beschäftigt. Dies Konzept gilt für die gesamte Umsetzungsstrategie der Adaption, die nicht den ganzen Prätext illustrativ wiedergibt, sondern durch Auswahl und Rekonstruktion spezifische Motive pointiert und nach eigener Logik darstellt. Die Leseart »Umblättern« bezieht sich auf die Aussage, aus »sogenannten vollendeten Kunstwerken ein Fragment zu machen« (TB, 42), was mit der Intention »alles zur Karikatur zu machen« (TB, 117) korrespondiert. Die Bildzitate des »Alten Meisters« in »Fragmenten« sind in verschiedenen Teilen vorgenommen, unter denen zum einen die zwei symmetrischen Zeichnungen zu finden sind (NM, 44f., 56f, 58f, 70f.), die durch die selektive Schilderung eines Bildelements bzw. die Vergrößerung eines Teils im gleichen Bild (NM, 68f.) einen Kontrast aufbauen und den Bearbeitungsvorgang explizit bewusst machen. Zum anderen finden sich auch Bildzitate, die einen Bildausschnitt als Ganzes im Panel wiedergeben (NM, 61; Abb. 3 und 4). Die selbstreflexiven Darstellungen in der Adaption weisen darauf hin, dass die Adaption prinzipiell auf dem ästhetischen Verständnis des Romans basiert, aber keine Nachbildung zum Prätext ist; ihre Eigenheit als eine reflexive Stilisierung und Bearbeitung wird hervorgehoben. Die autoreferenzielle Inszenierung und die grafische Visualisierung der literarischen Motive sind visuelle Verweise, wodurch die eigentümliche Identität der Literaturadaption akzentuiert wird – »Comic ist Comic« (intellectures 2014), wie Mahler sagt.

Anti-Mimesis-Kunst: Manierismus – Karikatur – Comic

Zur Karikatur als Anti-Mimesis-Kunst argumentiert Gombrich: »alle Entdeckungen auf dem Gebiet der Kunst sind nämlich nicht Entdeckungen von Ăśbereinstimmungen, sondern von Ă„quivalenzen oder Entsprechungen, die es uns ermöglichen, die Realität als Bild und ein Bild als Realität zu sehen« (Gombrich, 292). In Anbetracht dessen lässt sich hier zum einen der Sinn des Kernmotivs Karikatur als Ȇberlebenskunst« (TB, 301) mit Blick auf die im Roman thematisierte Anti-Mimesis-Kunst erörtern und zum anderen die Literaturadaption Mahlers an sich reflektieren. 

In Analogie zur Anti-Mimesis-Kunst stehen die Ăśberlegungen in Bezug auf die Absurdität der Verabsolutierung von Kunst und Wahrheit im Bernhard’schen Text sowie die absurde Problematik von »Original–Fälschung« bzw. »Wahrheit–Verfälschung«.1 Ebenso wie es unmöglich ist, die absolute Wahrheit mitzuteilen, bleibt es ausgeschlossen, die Natur als »das Ganze und das Vollkommene« (TB, 42) nachzubilden. Demzufolge sind »die sogenannten Meisterwerke und Alte Meister« bei Reger nichts mehr als »eine LĂĽge« (TB, 65), denn die absolute mimetische Kunst als exakte Nachbildung der Natur sei von Anfang an unmöglich, und deren Verehrung eine ›Geschichte der Verfälschung‹. Daraus wird die Folgerung hergeleitet: »Selbst das auĂźerordentlichste Kunstwerk ist doch nur eine armselige völlig sinn- und zwecklose MĂĽhe, die Natur nachzumachen, ja nachzuäffen« (TB, 63). Aus dieser Vergeblichkeit ergibt sich die Idee Regers, »alles zur Karikatur zu machen«, anstatt an die perfekte Kunst zu hängen: »es ist ja auch eine Methode, sagte er, alles zur Karikatur zu machen. Ein groĂźes bedeutendes Bild, sagte er, halten wir nur dann aus, wenn wir es zur Karikatur gemacht haben« (TB, 121). Die Karikatur als »einzige Ăśberlebenskraft« (TB, 121f.) interpretiert Mittermayer als »die Abwehr dieser Bedrohung, indem sie das Phantasma von absoluter Vollkommenheit, aus dessen Bann sich Bernhards Figuren nicht befreien können, als von keinem erreichbare Chimäre zu entlarven sucht« (Mittermayer, 129). 

Historisch gesehen wird die Karikatur in der Ă„sthetik des Häßlichen (1853) von Rosenkranz zum ersten Mal dem ästhetischen Diskurs subsumiert,2 der insistiert, »daĂź ein selbstbewuĂźtes Abweichen der Kunst von den durch die Natur gegebenen Formen behufs eines besonders ästhetischen Eindrucks oder in phantastischen Bildungen nicht als Inkorrektheit gelten darf« (Rosenkranz, 61). Die Karikatur wird legitimiert als »nicht nur die Negation allgemeiner ästhetischer Bestimmungen, sondern spiegelt als Zerrbild eines erhabenen, eines reizenden oder schönen Urbildes die Qualitäten und Formen desselben auf individuelle Weise in sich ab« (ebd., 66f.). Aus dem »selbstbewuĂźten Abweichen« der ästhetischen Norm von der klassischen mimetischen Kunst wird der Karikatur eine spezifische Charakteristik verliehen. 

Vor dem Hintergrund der Beschaffenheit der Karikatur – Asymmetrie, Disharmonie und KĂĽnstlichkeit – ist die Kunst des Manierismus und das Interesse Bernhards an Tintorettos Bild WeiĂźbärtiger Mann zu betrachten, was eines der bedeutendsten Motive in Alte Meister ist. Riegel sieht die manieristische Kunst als »eine Zersetzung der Renaissance«, wie einem BewuĂźtsein entspringt, »das mit voller Absicht auf organische NatĂĽrlichkeit verzichtet und Vorbilder aus einer frĂĽheren Zeit entlehnt, ohne deren innere Einheit anzustreben« (Riegel, 153). Die Entlehnung der ästhetischen Normen fĂĽr das Schöne aus der Renaissance, die nach der Gesetzmäßigkeit der Natur die Einheit, die Harmonie und die Proportion der Gestalt anstrebt, ist auch in den Bildern Tintorettos vorhanden. Ebenfalls zeigt sich die folgende markierte Passage in Lesematerialien Bernhards fĂĽr Alte Meister einen Knotenpunkt fĂĽr die »Auflösung des schönen Bilds«: »Tintorettos Bildnisse kennzeichnen den Ausbruch aus der Ausgewogenheit der Renaissance und den Beginn einer neuen Betrachtungsweise, die betont einseitig das schöne Bild auflösen will und erschreckend Finsternis einbrechen läßt« (TBW 8, 211). 

Unter der Bezugnahme auf die Anti-Mimesis-Kunst als Auflösung des klassischen Schönen die und KĂĽnstlichkeit kann Mahlers Comic in Analogie zu Manierismus und Karikatur betrachtet werden, denn er geht von der »selbstbewussten Abweichung« der mimetischen Kunst aus. Mahlers Stil ist von den in hochgradigen Abstraktionsprozessen entstandenen ›Cartoons‹3 geprägt, was sich in der reduzierten Darstellung und der konzeptionellen Weltwahrnehmung des Comiczeichners äuĂźert und als anti-mimetisch zu bezeichnen ist. Insbesondere ist es in Alte Meister bemerkenswert, dass die Figurendarstellung des Bildzitats die Worte der Romanvorlage – »das Lächerlichmachen und die Karikatur« (TB 119) – wortwörtlich visualisiert. Die Figurenzeichnung in den Bildern in Alte Meister unterscheidet sich von den typischen gesichtslosen Protagonisten Mahlers durch einen unterschiedlich hohen Grad der Abstraktion. Die 15-seitige Sequenz von Bildzitaten (NM, 56–71), die im Prätext nicht auftauchen und von Mahler ausgewählt sind, werden auf verschiedene Weise – Auslassung, Fragmentierung, und Vergrößerung– stilisiert. Die Panels im Comic werden wie Rahmen einer Ausstellung verwendet, und die karikierten Bilder visualisieren dem Prätext gemäß: »in der Kunst kann alles lächerlich gemacht werden, jeder Mensch kann lächerlich und zur Karikatur gemacht werden« (TB, 118). Die zitierten Meisterwerke von Tizian, Rubens, Velázquez usw. manifestieren in ihrer Verzerrung zum einen die Thematik des Prätextes, zum anderen hebt die KĂĽnstlichkeit der Comicform als anti-mimetische Kunst die Freiheit des Comiczeichners hervor. Es lässt sich konstatieren, dass Mahlers Literaturadaption die thematische und stilistische Ebene des Prätexts in Text-Bild-Form in intime Verbindung bringt – und die Karikatur als »die höchste Kraft des Geistes« (TB, 121) und als Charakteristikum des Comics darlegt, die Freiheit der Anti-mimetischen Kunst. 

Fazit

Nicolas Mahler transformiert Bernhards Alte Meister in eine comicspezifische Erzählform und weist dadurch auf ein neues Potenzial im Verhältnis von Literatur und Comic hin, welches ĂĽber eine analoge Wiedergabe des Prätextes hinausgeht. In diesem Sinne ist die Literaturadaption ein ›Dialog‹ mit der literarischen Vorlage, ein komplexes Verweisverhältnis auf der motivischen und stilistischen Ebene. ›Anti-Mimesis-Kunst‹ und ›Geschichtenzerstören‹ als inhaltlich thematisierte Elemente der Bernhard’schen Ă„sthetik in Alte Meister werden auch in Mahlers Darstellungsprinzipien bzw. -verfahren gestalterisch reflektiert. Die selbstreflektiven Analogien zur Thematik des Prätexts stehen zum einen in Einklang mit dem ästhetischen Substrat des Manierismus und der Karikatur als »selbstbewusste Abweichung« vom klassischen Kanon, zum anderen sind sie eine eindeutige Implikation der gattungsspezifische EigentĂĽmlichkeit des Comics. Ebenso hinsichtlich Adaption im Comic gilt es auch fĂĽr die ›absurde‹ Beschaffenheit der Literaturadaptiondie Mahler selbst angesprochen hat: »Wieso braucht man ĂĽberhaupt eine Literaturadaption, sowieso gibt’s schon den Originaltext. Wozu gibt es die Literaturadaption?« Das entspricht der Ausgangsfrage des Romans: »warum malen die Maler eigentlich, wo es doch die Natur gibt« (TB, 63). Aus dieser Absurdität lässt sich die Literaturadaption Mahlers Alte Meister als Befreiung von einer Nachbildung und als Freiheit fĂĽr eine Anti-Mimesis-Kunst verstehen.

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Bibliografie

  • NM Mahler, Nicolas (W/P): Alte Meister. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2011.
  • TB Bernhard, Thomas: Alte Meister. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 2015 [1988].
  • TBW Bernhard, Thomas: Werke. Bd. 8. Hg. von Martin Huber u. Wendelin Schmitdt-Dengler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008.
  • Anon. 2015: Preis der Literaturhäuser 2015. Nicolas Mahler erhält den Preis der Literaturhäuser. In: literaturhaus.net, https://www.literaturhaus.net/projekte/preis-der-literaturhaeuser-2015 (Letzter Zugriff am 30.12.2018).
  • Bernhard, Thomas: Der Keller. Salzburg: Residenz, 1976.
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  • Intellectures: In: <http://www.intellectures.de/2014/05/15/comic-ist-comic-und-damit-aus/>. 15.05.2014. Letzter Zugriff am 14.08.2018.
  • Lachnit, Edwin: Zur Geschichtlichkeit des Manierismusbegriffs. In: Hofmann, Werner: Zauber der Medusa. Europäische Manierismen. Hg. von Wiener Festwochen. Wien: Löcker, 1987.
  • Markwardt, Nils: Mit der Kunst leben. Thomas Bernhards Poetik der (Ver-)Fälschung im Roman »Alte Meister«. In: Weimarer Beiträge 58.3 (2012), S. 394–408.
  • McCloud, Scott: Understanding Comics. New York: William Morrow Paperbacks, 1993. 
  • Mittermayer, Manfred: Thomas Bernhard. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, 1995. 
  • NĂĽnning, Ansgar (Hg.): Grundbegriffe der Literaturtheorie. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, 2004. 
  • Rosenkranz, Karl: Ă„sthetik des Häßlichen. Stuttgart: Reclam, 2007 [1853].
  • Schmitz-Emans, Monika: Literatur-Comics. In Zusammenarbeit mit Christian A. Bachmann. Berlin: De Gruyter, 2012.
  • Stadler, Wolf (Hg.): Lexikon der Kunst. Bd. 6. Erlangen: Dörfler, 1998. 
  • Stam, Robert: The dialogics of adaptation. In: Filmadaptation. Hg. von James Naremore. New Brunswick: Rutgers University Press, 2000.
  • Wolf, Werner: Ă„sthetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen. TĂĽbingen: Max Niemeyer, 1993.
  • <https://www.literaturhaus.net/projekte/preis-der-literaturhaeuser-2015>. Letzter Zugriff am 02.08.2018.
  • Unpubliziertes Interview mit Nicolas Mahler gefĂĽhrt am 06.06.2018, Wien.

 

  • 1]   Â»Die Wahrheit, denke ich, kennt nur der Betroffene, will er sie mitteilen, wird er automatisch zum LĂĽgner. Alles Mitgeteilte kann nur Fälschung und Verfälschung sein, also sind immer nur Fälschungen und Verfälschungen mitgeteilt worden. Der Wille zur Wahrheit ist, wie jeder andere, der rascheste Weg zur Fälschung und zur Verfälschung eines Sachverhalts« (Bernhard, 42f.)
  • 2]   FĂĽr »Karl Rosenkranz (›Die Ă„sthetik des Häßlichen‹, 1853) war Karikatur der Sammelbegriff alles Häßlichen. Seine Publikation, die ›nunmehr auch die Schattenseite der Lichtgestalt des Schönen‹ in die ästhetische Betrachtung einzog, stand am Anfang der Erforschung des kĂĽnstlerischen Problems der Karikatur, die lange Zeit nur als Möglichkeit des Bildpamphletes, der Scherz- und Zerrbilder gegolten hatte« (Stadler, 307).
  • 3]   McCloud zufolge ist »By de-emphasizing the appearance of the physical world in favor of the idea of form, the cartoon places itself in the world of concepts. Through traditional realism, the comic artists can portray the world without – and through the cartoon, the word within […] in emphasizing the concepts of objects over their physical appearance, much has to be omitted« (McCloud, 41).