Woraus sich Erinnerung speist

Madgermanes rezensiert von André Schwarck

Pläne stehen als ideelle Entwürfe immer schon zwischen Imagination und Wirklichkeit. Doch was passiert, wenn die Pläne sozialistischer Regime an die Stelle von Wirklichkeit gerückt werden und als kollektives Schicksal persönliche Lebensentwürfe überschreiben? Solche Umstände erfahren drei erfundene Mosambikaner in Birgit Weyhes Madgermanes, als sie zu Beginn der 80er Jahre jung und mit vielen Hoffnungen in der sozialistischen Planwirtschaft der DDR landen.

Inmitten von Maputo, der Hauptstadt Mosambiks, steht ein aschgraues Klohäuschen auf dem mit roter Farbe »Base Central Madgermany« steht, darunter eine gemalte Deutschlandfahne. Hier treffen sich jede Woche die Madgermanes (gesprochen »Madschermanes«) was aus dem Shangana-Dialekt wörtlich übersetzt so viel heißt wie ›die, die in Deutschland waren‹. Sie sind ehemalige ›Vertragsarbeiter_innen‹, die in den 80er Jahren von ihrer damaligen sozialistischen Regierung der Frelimo (Frente de Libertação de Moçambique) in die DDR entsendet wurden, um dort, wie sie damals dachten, eine europäische Fremdsprache zu lernen und eine berufliche Ausbildung zu erhalten. Dies waren zumindest die offiziellen Versprechen, ein vermeintlich solidarischer Akt zwischen zwei sozialistischen Bruderstaaten. Im Februar 1979 schloss Honeckers Regime mit der Regierung Mosambiks ein staatliches Abkommen über »die zeitweilige Beschäftigung mosambikanischer Werktätiger in sozialistischen Betrieben der DDR«. Die Frelimo finanzierte ihren Bürgerkrieg, die DDR steckte sich größere Planziele ihre Maschinen auszulasten. Zwischen 1979 und 1990 waren über 20 000 Mosambikaner in der DDR »zeitweilig beschäftigt«, denn keine der Vertragsparteien wollte die jungen Afrikaner dauerhaft an die DDR binden. Viele aber blieben länger – bis Mitte der 80er Jahre dann ein Großteil ihres Lohnes einbehalten wurde, unter dem Versprechen, es ihnen nach ihrer Heimkehr auszuzahlen. In Mosambik wurde das Geld wiederum von der Frelimo veruntreut. Als sich die DDR auflöste, löste sich damit auch einer der Vertragspartner auf. Die Frelimo blieb zwar an der Macht, aber zurück in Afrika haben die Madgermanes bis heute keine Entschädigung erhalten. Deshalb haben sie 1993 einen Platz unweit des Arbeitsministeriums besetzt, den die Post in Maputo mittlerweile als »Jardim dos Madgermanes« anerkennt. Jede Woche haben sie seitdem demonstriert. Doch viele von ihnen sind nach jahrelangem vergeblichem Protest gegen ihre Regierung zermürbt und verbittert, sodass auch das englische ›mad‹, dass in ihrem Namen anklingt nicht ganz unzutreffend ist. Auch sind sie in den Augen vieler ihrer Landsleute ›Made in Germany‹, Fremde im eigenen Land, welche, die halt in Deutschland waren und sich vor dem blutigen Bürgerkrieg drückten, der währenddessen in Mosambik tobte und die jetzt starrsinnig allwöchentlich ihrer Wut Luft machen, indem sie in den Straßen Maputos Ansprüche einfordern, die vor Ort kaum einer nachvollziehen kann, und das ganz diszipliniert, in Zweierreihen. Irgendwie ein bisschen ›verrückt‹ halt, irgendwie auch ein bisschen ›deutsch‹. Das Klohäuschen dürfen die Madgermanes als Treffpunkt offiziell nutzen, die Einnahmen der öffentlichen Toilette sogar einbehalten.

In den letzten Jahren hat das Schicksal der Madgermanes immer wieder seinen Weg in die politische Berichterstattung und die Feuilletons der deutschen Öffentlichkeit gefunden. Nicht zuletzt durch die fotografischen und filmischen Arbeiten von Malte Wandel, der in seinen Bildern vor allem die traurige und ausweglose Situation der Madgermanes im Mosambik von heute festgehalten hat. Das Bild mit der bedrückenden Toilettenbasis etwa nimmt einen zentralen Platz in seinem Fotoband Einheit, Arbeit, Wachsamkeit ein.1 Birgit Weyhe zitiert dieses und andere Bilder von Malte Wandel würdigend, und auch sie schildert die hoffnungslose Lage der ehemaligen Vertragsarbeiter_innen im heutigen Mosambik. Madgermanes, anders als Wandel, zeigt aber nicht nur ›die, die in Deutschland waren‹, sondern erzählt eindrucksvoll wie es ihnen erging, während sie dort waren.

Birgit Weyhe, die selbst ihre Jugend in ostafrikanischen Ländern verbrachte, interviewte für ihr Buch mehrere ehemalige Vertragsarbeiter_innen. Da deren Leben in der DDR so reglementiert und die Erfahrungen der Befragten deshalb so erstaunlich ähnlich waren, umging sie die Gefahr, redundante Comic-Reportagen zu verfassen, indem sie den Stoff zusammenfasste und fiktionalisierte.2 Drei erfundene Figuren lässt sie ihre miteinander verschränkten Lebensgeschichten erzählen: die von José Antonio Mugande aus dem relativ friedlichem Pemba im Norden Mosambiks, von Basilio Fernando Matola aus der Hauptstadt Maputo und von Anabella Mbaze Rai aus dem im Bürgerkrieg stark umkämpften Küstenort Beira.

Am Anfang einer jeden dieser drei Erzählungen steht die Idee der Erinnerung. Wie schon in ihren früheren Arbeiten Reigen (2011) und Im Himmel ist Jahrmarkt (2013) ist diese nicht nur thematisch sehr wichtig. Als ein flüchtiges und schwer fassbares Phänomen prägt sie auch grundlegend die Ausgestaltung ihrer Bilderwelten. So beginnt Madgermanes mit der als programmatisch lesbaren Frage: »Woraus speist sich Erinnerung?« (7). Das, woraus sich Erinnerung speist, ist kategorisch unbekannt, changierend und noch flüchtiger als das, was sich der/dem Erinnernden sprachlich oder bildlich präsentiert. Letzteres ist gemeinhin, was wir ›Erinnerung‹ nennen. Bei Weyhe dringt beides ins Bild. José sagt zum Auftakt: »Die Erinnerung ist eine läufige Hündin. Sie legt sich mal hier hin … mal dort. Wenn man sich ihr nähert, weiß man nie – wird sie bleiben?« (21). Weyhe dokumentiert in ihren Geschichten wie und ob es ihren Figuren in ihren Interview-Monologen gelingt, Diffusem in der Vergegenwärtigung Kontur zu verleihen. Dabei sind die entstehenden Erinnerungsbilder immer schon unzuverlässig. Sowohl für die Figuren als auch für die Leser_innen gibt es keine Gewähr dafür, dass klar konturierte und kontrastreiche Bilder wirklich gelebte Momente abbilden oder dieselben doch einfach nur verklären. Markieren grobe Tuschstriche oder sich auflösende Linien die Unmöglichkeit des Erinnerns oder verhelfen sie gerade existenziellen Gefühlen, wie Liebe, Angst oder Verzweiflung zum Ausdruck? Beide Pole, klar konturierte und sich auflösende Bilder können wechselnd dafür stehen, dass Erinnerung gelingt oder misslingt. Mit diesem eigenen Spektrum löst sich Weyhe vom Diktum einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung, und eines wird Seite für Seite zunehmend deutlich: Erinnerung soll hier gelingen – und dass es den Leser_innen immer wieder selbst überlassen bleibt, zu entscheiden, ob und inwieweit dies der Fall ist, bestimmt den Puls dieser beeindruckenden bildlichen Fiktionen.

José Antonio Mugande kommt mit der Hoffnung, Lehrer zu werden nach Ost-Berlin. Wie alle Vertragsarbeiter_innen wird er zunächst in einem entlegenen Wohnheim untergebracht, ganz so wie es ›vertraglich‹ zwischen den sozialistischen Bruderstaaten geregelt ist. Fünf Quadratmeter stehen jedem zu; und so treffen Josés Pläne auf die sozialistische Planwirtschaft der DDR und dies bedeutet zunächst einmal ›Wohnheimordnung‹, ›Ausgangsperre‹ (ab 17 Uhr) und allen voran ›Einteilungen‹ und ›Zuteilungen‹. Ein Bett, eine Decke, ein Stuhl, zwei Handtücher. Nach einem dreimonatigen Deutschkurs erfolgt für alle (ohne Rücksicht auf bereits erlernte Berufe oder Ausbildungswünsche) die Zuteilung in eine Arbeitsbrigade. Ob das Fleischkombinat in Halle, der VEB Elektroglas in Ilmenau oder das Chemiefaserwerk in Premnitz – um ihre Maschinen auszulasten haben diese und viele andere volkseigene Betriebe die Vertragsarbeiter_innen fest eingeplant. José kommt zum Gleisbau, wo ihm letztlich auch noch ein neuer Name zuteilwird: »Nee – dit kann doch keen Mensch aussprechen… Da nehm wa lieber Antonio. Denn bist du hier der Toni!« (42). Weyhes Bilder zeigen mit einfachen, aber eindringlichen Mitteln, wie der schüchterne »Toni« sich dieser Welt fügt. So tauchen etwa immer wieder orthogonale Formen in seiner Erzählung auf und visualisieren so im Comic Josés allmähliche Anpassung an die ihm fremde Umgebung, und das nicht nur durch den anstandslosen Bau von rechteckigen Gleisbetten. Zentral und prägend wird hier das Plattenbauwohnheim in schlichter Frontalansicht mit seinen symmetrisch angeordneten Fenstern. Dessen Schachbrettmuster kehrt grafisch als Muster in anderen Objekten wieder – Planquadrate dominieren fortan Tonis Leben. Unauffällig aber konsequent durchziehen sie bildlich seine DDR-Welt, so etwa das dezente goldbronzene Karomuster, das nicht nur die Fenstervorhänge von Tonis Wohnheimzimmer ziert, sondern auch sein Hemd oder gar das leuchtende Rot des mittlerweile ikonisch gewordenen ostdeutschen Ampelmännchens ersetzt. Auch sonst sind es immer wieder rechteckige Objekte, die in Tonis Erzählung auftauchen: Bücher, Poster, Etiketten, Ansichtskarten, Briefmarken, Plakate, Parteiabzeichen und Stadtpläne. Deren Abbildungen sind klar konturiert, als ob sie der Figur einen provisorischen Halt in der Fremde verleihen. Toni eignet sich die DDR sprachlich und kulturell über diese Objekte an. Er schaut DEFA Indianerfilme, liest Bilderbücher wie Klemkes Schwalbenchristine und wirbt um seine große Liebe mit Rotsternschokolade. Was auf den ersten Blick wie ein kalkuliertes Spiel mit Ostalgie wirkt, zeigt sich bei näherer Betrachtung als eine subtile Annäherung daran, wie leicht Fremdes zu Vertrautem und das vermeintlich Bekannte plötzlich zum Fremden werden kann.

Plattenbauten und Rechtecke. Für José ist die DDR vornehmlich orthogonal.

Mit dem Lebemann Basilio hält nicht nur ein anderer Charakter Einzug in das Wohnheim, sondern auch Humor und eine andere Formenwelt. Gestreckte Ellipsen, egal ob als Blumen, Blätter oder Kaffeebohnen, mit Basilio ist Vieles gefleckt, gescheckt und entzieht sich jeglicher symmetrischen Ordnung, ganz so wie er sich selbst der Wohnheimordnung entzieht. Basilio macht einfach heimlich, was er nicht darf. Er geht aus, trinkt und trifft deutsche Frauen. Auch Löwen und Leoparden tauchen in seinen Erzählungen auf, womit in die Erinnerungswelten von Madgermanes vermehrt afrikanisch-ikonische Klischees Einzug erhalten. Basilio hält letztlich für Vieles her und Weyhe verdeutlicht mit dieser Figur viele bekannte Vorurteile. Für die anderen Figuren ist er ›der Afrikaner‹, ›exotisch‹ oder ›faul‹, der ›Ausländer‹, der den Hass der Rechten in Hoyerswerda erfährt und am Ende ist er auch der ›Madgerman‹, der in den Straßen Maputos und vor der Base-Central-Madgermany-Toilette in Maputo demonstriert, ja selbst der ›Madgerman‹, wie ihn deutsche Künstler_innen wie Malte Wandel oder eben auch Birgit Weyhe in ihren Bildern inszenieren. Wenn etwa zu sehen ist, wie er phlegmatisch in seiner einfachen Hütte sitzt (158), dann zitiert sie nicht nur ein Foto von Malte Wandel, sondern öffnet damit den Blick darauf, wie die Madgermanes von gegenwärtigen Künstler_innen der Bundesrepublik ästhetisiert werden.

Das Basislager am »Jardim dos Madgermanes« in Maputo.

Droht Basilios Schicksal in Bildern zu erstarren, so erreicht Weyhes Buch mit der Geschichte von Anabella Mbanze Rais schließlich ihren eigentlichen erzählerischen Höhepunkt. Mit ihr verschränken sich nicht nur die Handlungen der Figuren, sondern verdichten sich auch die zeichnerischen Verfahren sowie die Komposition von Weyhes Bilderwelten. Krähen und Nektarvögel tauchen bei Anabella auf, ikonisch-allegorische Schicksalsvögel, die sich durch das gesamte Schaffen von Birgit Weyhe ziehen und auch hier als Boten großer Gefühle eingesetzt werden. Anabella verliert ihre Familie im Bürgerkrieg Mosambiks und ihre große Liebe in der DDR. Mit ihrem Schicksal wird deutlich, was zwischen den sozialistischen Vertragspartnern allen voran ›vertraglicher‹ Gegenstand ist: Waffen und moderner Sklavenhandel. All das wird einfühlsam erzählt. Trotz ihrer Schicksalsschläge schafft es Anabella als einzige Figur, den Übergang von der DDR in die BRD zu überstehen. Anders als José und Basilio, kehrt sie nicht nach Mosambik zurück. Sie schafft es, erfolgreich eine Abendschule zu besuchen, indem sie den Takt ihrer stupiden Arbeit in der Wärmflaschenproduktion der VEB Gummiwerke einfach beibehält. Sie macht einen Schulabschluss, kann in der unsicheren Wendezeit juristisch einen langfristigen Aufenthalt in der BRD erstreiten, studiert Medizin und erlangt letztlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Gegen Ende des Buches ist Anabella auf einem medizinischen Kongress in Brasilien. In einer Pause geht sie in einen Park, dessen Pflanzen und Düfte sie an Mosambik erinnern. In diesem Moment kann sie die Tränen nicht länger zurückhalten (232–233). Während die Pflanzen und Blüten mit klaren Konturen gezeichnet sind, muss Weyhes Protagonistin stellvertretend für die anderen Madgermanes einmal mehr aushalten, dass inmitten von Erinnerung und Verdrängung sowie der verlorenen Heimat Mosambik und einem Deutschland, das ihr die Heimat nie ersetzen können wird, alles oft weniger klar, diffus und schmerzvoll sein kann. Umgeben von den Pflanzen hält Anabella dies aber aus, zumindest vermeint man das Bild so deuten zu können. Einen solchen Trost werden Leser_innen dieses empfehlenswerten Buches vielleicht auch mit dem letzten Panel empfinden. Es variiert das Bild, mit dem Madermanes bereits beginnt und evoziert zum Schluss noch einmal die zentrale Frage danach, woraus sich Erinnerung speist. Bei einer Pflanze lösen sich da nämlich die einzelnen Staubblätter von der Blüte ab und streben schwebend durch den weiß-leeren Bildraum der letzten Seite.

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  • 1]Wandel, Malte: Einheit, Arbeit, Wachsamkeit. Heidelberg: Kehrer, 2012.
  • 2]Birgit Weyhe in einem Interview mit Bernd Glasstetter im Rahmen des 17. Internationalem Comic Salons in Erlangen, 26.5.2016. <http://www.splashcomics.de/php/messen/berichte/1697>. Letzter Zugriff am 1.10.2017.

 

Madgermanes
Birgit Weyhe
Berlin: Avant, 2016
238 S., 24,95 Euro
ISBN 978-3-945-03442-2