Nicht so Krazy
Michel Tisserands Biografie von George Herrimans Herkunft

Krazy: George Herriman. A Life in Black and White rezensiert von Ole Frahm

Mit Krazy. George Herriman. A Life in Black and White legt Michel Tisserand die erste und durchaus beeindruckende Biografie eines der wichtigsten Comiczeichner aller Zeiten vor. Er interpretiert Krazy Kat aus dem biografischen Faktum, dass George Herrimans Familie durch einen Umzug ein passing vorgenommen hat, also von colored zu white wechselte. Das verengt den komplexen Comicstrip unnötig.

Michel Tisserands lang erwartete Biografie schließt eine bedeutende Forschungslücke, ist es doch die erste Zusammenschau von Herrimans Oeuvre. Dass ein solches Werk erst über hundert Jahre, nachdem die berühmte und einflussreiche Krazy Kat das erste Mal eine Sonntagsseite füllte, erst über siebzig Jahre nach dem Tod des Zeichners erscheint, spricht Bände über die Entwicklung und den Stand der Comicforschung. Denn leider ist es ja nicht so, dass bisher Biografien als Genre bürgerlicher Geschichtsschreibung verworfen worden sind und deshalb Herriman noch mit keiner gewürdigt wurde. Es gab keine Debatte darüber, ob der biografische Ansatz nicht als ungenügend empfunden werden könnte, um die Produktionsweisen der Comics Anfang des 20. Jahrhunderts zu fassen.

Wenig überraschend stellt sich Michel Tisserand nicht die Frage, ob der von ihm implizit angesetzte ›Werk‹-Begriff für Herrimans Produktion angemessen ist. Biografie scheint ein zu selbstverständliches Genre zu sein, um sich methodischen Fragen zu widmen. Dies betrifft allerdings in dem Fall von Krazy auch die Reflexion des Quellenmaterials. Warum die zum Teil spärliche Überlieferung Tisserand immer wieder zu Sätzen treibt, die mit Perhaps beginnen, warum vieles aus dem Leben des Zeichners – jenseits des in den Zeitungen veröffentlichten Materials – völlig unbekannt und nicht überliefert ist, sodass sich die Auswahl des Berichteten aus dem ihm vorliegenden Material ergibt, wird an keiner Stelle thematisiert. Ob Herriman, wie es in der bisher umfassendsten biografischen Skizze in dem unersetzlichen Band von Patrick McDonell und Karen O’Conell hieß, seit Mitte der 1920er Jahre eine von der Produktion des Strips unabhängige Leibrente von William Randolph Hearst erhielt, ist nicht sicher. Tisserand hält es mit guten Argumenten für unwahrscheinlich, ohne aber Details über die Bezahlung des syndikalisierten Strips in Erfahrung gebracht zu haben.

Doch der große Detailreichtum, den der Autor präsentiert, ist, dessen ungeachtet, beeindruckend und lesenswert. Das betrifft zuerst die weitverzweigte Familiengeschichte George Herrimans, die ausgesprochen genau die Implikationen von Arthur Asa Bergers Entdeckung der Geburtsurkunde vom Herriman Anfang der 1970er Jahre mit dem Eintrag colored erklärt. Herrimans Eltern zogen, als der Zeichner sechs Jahre alt war, von New Orleans nach Los Angeles und konnten so ein passing vornehmen, die damals nicht unübliche Praxis, sich dem virulenten Rassismus zu entziehen, indem man sich als Weißer ausgab und als solcher erscheinen konnte. Tisserand, selbst in New Orleans lebend, erinnert daran, dass ein solches passing Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder in den Zeitungen skandalisiert wurde, in denen Herriman seine Zeichnungen unterbrachte. Der Autor vermag auch plausibel zu zeigen, wie wichtig das Verhältnis von ›weißer‹ zu ›afro-amerikanischer‹ Identität und Kultur für Herriman war. Aber sein biografischer Ansatz, der vor allem als Motivation und Erklärung des Comicstrips herhalten muss, verhindert, dass dies in einer umfassenderen Perspektive verstanden werden kann. Dabei beweist das von ihm so wunderbar ausgebreitete Material, wie wichtig diese Frage für die amerikanische Massenkultur Anfang des 20. Jahrhunderts war. Doch wenn er beispielsweise auf den leicht nachweisbaren Einfluss von dem Vaudeville-Star Bert Williams auf George Herriman zu sprechen kommt, bleiben die Beispiele kursorisch und werden nicht systematisch verfolgt: die Auswertung wird weiteren Arbeiten überlassen. Tisserand gelingt es überzeugend, die Wiederkehr des passing-Motivs in Herrimans Cartoons und Comics nachzuweisen, aber um den Preis, dass viele andere, weniger biografische Motive nur en passant erwähnt werden. Überhaupt liest Tisserand die zahlreichen frühen Arbeiten des Zeichners aus der Perspektive des späteren Meisterwerks Krazy Kat, sie erscheinen immer nur als Vorarbeiten, die nicht von einer noch offenen Zukunft aus betrachtet werden – oder mit einer sorgfältigen Reflexion der Rezeptionsgeschichte Krazy Kats.

Alle Einwände ändern nichts an der Bedeutung von Tisserands Arbeit. Er hat alle Zeitungen durchgearbeitet, in denen seit 1901 Cartoons und Comics des Zeichners erschienen sind. Er berichtet von vielen einzelnen Witzzeichnungen und rekonstruiert deren meist keineswegs leicht zugänglichen Hintergrund. Er beschreibt viele der oft kurzlebigen Strips, die erschienen, bevor George Herriman mit The Dingbat Family und schließlich mit Krazy Kat zu einem der national  wahrgenommenen Comicproduzenten wurde. Die Biografie ruft nach einem zweiten Band, in dem die zahlreichen erwähnten Strips kommentiert und erneut abgedruckt werden könnten, denn aus unerklärten Gründen zeigt Tisserand fast ausschließlich einzelne Panels und illustriert auch schon einmal die Beschreibung eines frühen, mir bisher unbekannten Strips – The Curious Teosophic Tale of a Lobster’s Tender Romance – mit einem späteren, oft zitierten Krazy Kat-Panel.

In einer einmaligen historischen Konstellation vermag Tisserand seine These am überzeugendsten zu plausibilisieren. Er erzählt von dem legendären Boxkampf zwischen Jack Jonson und James Jeffreys, mit dem das erste Mal seit 1892 in einem entscheidenden Fight die color line überschritten wurde. Die color line behauptete, dass Afro-Amerikaner per se den Weißen unterlegen seien und jene den Kämpfen mit diesen unwürdig. Tisserand zeigt sehr schön, wie die Hearst-Zeitungen Jonson unterstützen, Zeichner wie Herriman und sein bedeutender Kollege Tad Dorgan deutlich gegen Rassisten wie Jack London Partei ergreifen – und wie dieser Kampf nicht zuletzt auch eine Katze hervorbringt, die den Auftritt von Krazy wenige Wochen später in The Dingbat Family vorbereitet. Was an vielen Stellen immer ein wenig zu kursorisch angetippt wird, kristallisiert sich in diesem Kapitel zu einem überzeugenden Argument. Ein weiterer Verdienst Tisserands ist sicherlich, die Kollaborationen zwischen den verschiedenen Zeichnern und den Journalisten in den Zeitungsredaktionen fasslich zu machen. Auch wenn er den Schritt zu einer Kollektiv-Biografie nicht wagt (das Material dafür wäre offensichtlich vorhanden), ist seine Darstellung der Produktionsweisen sehr aufschlussreich. Allerdings versäumt er – wahrscheinlich wiederum, weil es dazu keine Quellen gibt – zu schildern, warum und wann genau sich Herrimans Produktionsweise aufgrund der Syndikalisierung und der daraus folgenden nationalen Distribution verändert. Doch viel ist damit gewonnen, dass solche Lücken deutlicher denn je sichtbar werden.

Eine persönliche Nachbemerkung möchte ich mir erlauben: Natürlich ist Tisserands Buch bei allem, was ich daran kritisiert habe, ein Standardwerk, an dem niemand, der sich ernsthaft und albern, fröhlich und deprimiert mit Comics befassen will, vorbeikommt. Dies betone ich so deutlich, weil ich erst kürzlich freundlicherweise zu einem Workshop der AG Comicforschung in der Gesellschaft für Medienwissenschaften eingeladen war, wo kein Beitrag (außer meinem) Comics vor 1990 behandelte. Dies ist um so unverständlicher, als viele Comicstrips und Comicbooks heutzutage wie nie zuvor in ihrer Geschichte durch Wiederveröffentlichungen und Digitalisierung zugänglich sind. Tisserands Buch ist nicht zuletzt ein Zeugnis dieser Materialfülle.

 

Krazy: George Herriman, A Life in Black and White 
Michael Tisserand
New York: Harper Collins, 2017
560 S., 22,00 US Dollar
ISBN 978-0-0617-3299-7