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500 Seiten Mittelmäßigkeit

The Sculptor rezensiert von Dennis Wegner

Kaum ein Name dürfte wohl in der Comicforschung so bekannt sein wie Scott McCloud. Es überrascht, dass The Sculptor McClouds erstes fiktionales Werk seit über zehn Jahren und – nach eigenen Angaben – seine erste Graphic Novel überhaupt ist. Die Lektüre von The Sculptor suggeriert allerdings, dass McCloud lieber bei der Comictheorie bleiben sollte.

Der junge Bildhauer David Smith führt ein tristes Leben in der Metropole New York. Mit anderen Menschen kommt er nicht besonders gut klar, seine Familie ist bereits verstorben, und – am schlimmsten von allem – in der Kunst ist er absolut erfolglos. Dies läuft seinem großen Lebenstraum zuwider: Mit seiner Kunst in die Geschichte einzugehen und damit eine Art Unsterblichkeit zu erreichen. An seinem 26. Geburtstag jedoch macht David Bekanntschaft mit dem Tod persönlich und geht einen folgenschweren Deal mit ihm ein, denn er erhält die Fähigkeit, alles nur Erdenkliche mit seinen bloßen Händen formen und erschaffen zu können. Im Tausch bleiben ihm lediglich 200 weitere Tage bis zu seinem Tod übrig. Doch auch mit seinen neuen Kräften ist ihm zunächst kein Erfolg vergönnt. Zudem verliebt er sich in die geheimnisvolle Meg, und er beginnt nicht nur seinen Pakt mit dem Tod sondern auch seine Lebensziele zu hinterfragen.

Das Manic Pixie Dream Girl kommt buchstäblich mit Engelsflügeln herbeigeflogen.

Fünf Jahre arbeitete McCloud an seiner fast 500 Seiten umfassenden Graphic Novel. Dies macht sich besonders in der Gestaltung des Handlungsortes New York bemerkbar. Mehr als zehntausend eigene und unzählige weitere Fotografien aus dem Internet habe McCloud benutzt, um sein »cartoon NYC« (McCloud, 491) erschaffen zu können. Diese Arbeit zahlt sich aus, denn McClouds Metropole und seine Statisten überzeugen durch Liebe zum Detail.

Es scheint aber, als hätte McCloud den Großteil seiner fünfjährigen Arbeit in die Perfektion seiner Zeichnungen gelegt, denn gestalterisch fallen auf den fast 500 Seiten der Graphic Novel kaum denkwürdige Raffinessen auf. Das ist dahingehend überraschend, da McCloud doch wie kaum ein anderer über die Möglichkeiten des Mediums Bescheid wissen sollte. Stattdessen ist The Sculptor in seiner Gestaltung nahezu filmisch und absolut konventionell.

Auch die Erzählung weist enttäuschende Schwachstellen auf. Dies macht sich vor allem in der fehlenden Innovation und der Reproduktion gängiger Klischees in der Gestaltung des Plots und der Figuren bemerkbar. Tatsächlich liest sich The Sculptor wie ein Katalog gängiger Filmtropen, den es abzuarbeiten gilt.

Erstens, der Protagonist als Außenseiter: Wie bereits genannt ist David ein absoluter Versager. Er ist erfolglos, hat kein Geld, seine Familienstrukturen sind alles andere als intakt (da Eltern und Schwester tot sind). Er ist deprimiert, weint seinen fünf Minuten im Rampenlicht der Bildhauerszene hinterher, hat kaum Freunde, usw. usw. Zu Beginn der Story sitzt er einsam in einem Diner, trinkt Alkohol und blafft die Kellnerin an. Somit wissen wir noch keine 60 Sekunden nach Beginn der Lektüre ob der male struggles, die für den Rest der Geschichte den Ton angeben werden. Gäbe es doch nur jemanden, der ihm zu einem Ausweg und ein bisschen character development verhelfen könnte...

... Und da kommt, zweitens, Meg ins Spiel. Meg sticht primär dadurch ins Auge, dass sie ein Manic Pixie Dream Girl ist, wie es im Buche steht: Sie ist psychisch labil, selbstlos, irgendwie unnahbar und deshalb interessant, und nicht zuletzt besteht ihre Hauptaufgabe darin, unserem männlichen Protagonisten einen neuen Sinn in seinem Leben zu geben und ihm über seine eigenen Probleme hinweg zu helfen. Das i-Tüpfelchen ist hierbei Megs Einführung in die Story, denn sie kommt buchstäblich als Engel herbeigeflogen und versichert David mit einem Kuss: »Everything will be alright.« (McCloud, 51) es ist schockierend, wie perfekt Meg in die MPDG-Schablone passt.

Drittens, The Sculptor folgt penibel der Erzählstruktur jeder anderen herkömmlichen Boy-meets-girl-Narration. David trifft Meg und sein Leben scheint nun langsam wieder bergauf zu gehen. Natürlich kommt es schließlich zum obligatorischen Konflikt, die Beziehung geht in die Brüche, da David Angst davor hat, Meg mit seinem unausweichlichen Tod in ein emotionales Loch zu stürzen. Aber auch diese Krise wird überwunden und sie leben glücklich bis ans (sehr nahe) Ende ihrer Tage.

Zugegeben, McClouds Graphic-Novel-Debüt so sehr im Kontext des Gesamtwerks des Autors zu betrachten, mag ein wenig unfair erscheinen. Doch stets wird, sei es auf dem Buchdeckel, dem Nachwort oder den Homepages des Verlags und des Autors auf den Umfang des Werkes, die jahrelange Arbeit und die langersehnte Publikation hingewiesen. Wer also bereits als Vermarktungsstrategie immer wieder eine Kontextualisierung provoziert und das Buch als nächstes großes Epos anpreist, sollte dann letzten Endes auch ein Ergebnis abliefern können, das nicht komplett auswechselbar ist und nach einigen Jahren auf dem Markt höchstens durch seinen dicken Buchrücken auffallen wird. So wird uns der Name Scott McCloud auch in Zukunft eher als Comictheoretiker in Erinnerung bleiben.

 

The Sculptor
Scott McCloud
Macmillan: First Second, 2015
496 S., 29,99 US Dollar
ISBN 978-1-59643-573-5