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Tagungsbericht 1. Kieler Comic Konferenz
Comic Konferenz zum Thema »Anfänge und Neuanfänge im Comic« an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Vom 09.–11. September 2016 trafen sich deutsche und internationale Comicforscher_innen zur Kieler Comic Konferenz in Kiel, organisiert von CLOSURE, dem Kieler e-Journal für Comicforschung.

In fünf Panels und einer Keynote, bestritten von 12 geladenen Wissenschaftler_innen sowie zahlreichen interessierten Zuhörer_innen, wurde das Thema »Anfänge und Neuanfänge im Comic« in den Blick genommen – aus comicadäquat interdisziplinärer Perspektive. Historische Rekonstruktionen grafischer Anfänge wurden ebenso vorgestellt wie Ansätze, die den ›Anfang‹ eines Comics als formales Mittel annehmen und seine erzähltheoretischen und stilistischen Auswirkungen in den Vordergrund stellen. Darüber hinaus wurde die Frage nach einem (Neu-)Anfang der Comicwissenschaft und des -mediums gestellt – ohne die bestehenden Traditionen und Ansätze der Comicwissenschaft in Deutschland und international aus dem Auge zu verlieren – wie auch ein ›Anfang‹ oder ›Neuanfang‹ als Motiv thematisiert wurde.

Freitag, 09.09.2016

Das CLOSURE-Team eröffnete die Konferenz im Veranstaltungssaal der Kunsthalle zu Kiel mit einem kurzen Überblick über die verschiedenen thematischen Dimensionen des Begriffs ›Anfang‹.

An diese eröffnenden Worte schloss sich eine Comic-Lesung an, die performativ auf den Untersuchungs­gegenstand der Konferenz einzustimmen vermochte: Vier Comic-Künstlerinnen und -Künstler gaben in kurzen Lesungen Einblick in ihr Werk. Mit dabei waren Jul Gordon, Sascha Hommer und Tanja Esch aus Hamburg und Gregor Hinz vom Kieler Comic-Kollektiv Pure Fruit.

Jul Gordon liest aus dem Werk Le Parc.

Jul Gordon und Sascha Hommer, die Gründer_innen der Hamburger Kulturorganisation Kontaktcenter, stellten ganz unterschiedliche Comics vor: Während Hommers In China seinen anthropomorphen Katzen-Protagonisten durch ein fremd erscheinendes Chengdu stolpern lässt, entfaltet Gordons Le Parc ein Panorama skurriler Figuren, deren Form sich vor den Augen der Zuschauer_innen in Striche und Punkte aufzulösen droht. Tanja Esch hatte ihr Supercool dabei – die Geschichte um einen Friseurbesuch, Anpassung, Freundschaft und Rivalität – und Gregor Hinz gleich mehrere Texte: neben dem einen oder anderen Ausschnitt aus der Kieler Comic-Anthologie Pure Fruit vor allem sein Haus, vor dem es von unten nach oben schneit. Musik und Sound unterstützten die Geschichte um einen vom Leben gebeutelten Löwen und etablierten einen ganz eigenen Rhythmus. In Präsentations­formaten, die von traditionell anmutender Lesung bis hin zur Multimedia-Performance reichten, wurde so das visuell-materielle Artefakt ›Comic‹ vorgeführt, ins Bild gesetzt, geflüstert oder mit Soundeffekt-Punchline kommentiert. Ganz unterschiedliche Herangehensweisen, Stile und Formen des Mediums ›Comic‹ also – und immer wieder wurden Besonderheiten des Mediums, von Panelabfolgen zu variantenreicher Plastizität cartoonhafter Figuren, ins Bild gerückt, die auch in den Panels der folgenden Tage zum Thema gemacht wurden.

Die Comickünstler_innen stellen sich vor.

Samstag, 10.09.2016

Einstieg

Über die origin story, also die Entstehungsgeschichte als kulturelle Narration, näherte sich Julia Ingold in ihrer Begrüßung dem Thema der ›Anfänge‹ und ›Neuanfänge‹. Ihre Einführung stellte nicht nur beispielhafte Anfänge aus Elfquest und Habibi vor, ganz unterschiedlichen Comicformaten also, sondern umriss auch den thematischen und methodischen Rahmen der Konferenz. Nach einer kurzen Entstehungsgeschichte des e-Journals – der CLOSURE-origin – wurde das erste Panel eingeläutet.

Panel 1

Den Anfang machte Joachim Jordan aus Berlin mit einem Beitrag zu Die schlaflosen Nächte des Major Stefanov. Unsichere, endlose Anfänge im bulgarischen Comic der 80er Jahre. Jordan beschäftige sich mit der Daga (Regenbogen) als dem wesentlichen Beginn der Comic-Publikation in Bulgarien. Verlegt wurde diese Zeitschrift von der Regierung – was Regime­treue und propagandistische Intentionen nahelegt. Jordan zeigte allerdings, dass die Darstellung von Unsicherheit und Zweifeln der im Geheimdienst tätigen Protagonisten durchaus einen Konflikt mit offizieller Ideologie ins Bild setzen konnte – zwar nicht völlig entgegen, aber doch in Abwandlung eines heroischen Neuanfangs im sozialistischen Staat. Jordan argumentierte, dass das subversive Potential dieser Comics, die beachtliche Auflagen von bis zu 150 000 Exemplaren erzielten, oft subtil ins Bild gesetzt wurde: den Comichelden vom Nationalen Geheimdienst schlägt das Misstrauen der Bevölkerung entgegen und sie sind keineswegs vor Fehlern gefeit. Comic-Anfänge, propagandistische Anfänge und Anfänge des Comics als Medium mit subversivem Potential wurden im sowjetischen Regen­bogen miteinander verknüpft – Jordan rekonstruiert einen wenig beachteten Anfang der Comicgeschichte.

Julia Ingold und Carmela Artime Omil, die in ihrem Vortrag zu Comics über den spanischen Bürgerkrieg spricht.

Mit einem weiteren Anfang des Comics als Medium historischer und historiografischer Betrachtung schloss sich Carmela Artime Omil aus Barcelona an, die sich dem Thema Claiming Truth: Beginnings in Spanish Graphic Novels on the Civil War (2005–2015) widmete. Die Comics, die sie in ihrem Beitrag vorstellte, positionieren sich als Medium der Aufarbeitung: Graphic Novels werden als Möglichkeit dargestellt, zu einem Despertar tras la amnesia – einem ›Erwachen nach dem Vergessen‹ – beitragen zu können. Comics brechen einen Pakt des Schweigens über den Bürgerkrieg und seine Folgen. Um sich in diesen Diskurs historischer Aufarbeitung einzuschreiben und einzuzeichnen, etablieren die behandelten Comics (u. a. Antonio Altarribas und Kims El arte de volar) zunächst ihre historische Autorität. Dieser Gestus wird durch Paratexte, die Betonung persönlich-biografischer Perspektiven und Darstellung historischer Ereignisse und Daten evoziert. Die Neu-Erzählung soll zu einer neuen kollektiven Narration werden, die Vergessen verweigert. Artime Omil sieht in der Spannung zwischen Fiktionalität und Faktualität das Potenzial einer Wahrheit, die von historischer Rekonstruktion ausgeht, aber dennoch nicht am Grad ihrer vermeintlichen Objektivität gemessen werden kann: »Ich bin nicht neutral«, wie es eine Protagonistin aus Artime Omils Korpus programmatisch formuliert.

Der durch den Buchladen Zapata bereitgestellte Büchertisch machte das Schwelgen in verschiedensten Comicpublikationen in der Pause möglich.

Panel 2

Von Neuanfängen mit und durch Comics ging es im Anschluss zu vergessenen Anfängen des Comics. In dem Vortrag Werbecomics at the Beginning of German Comics stellte Paul M. Malone aus Waterloo, Kanada das marginalisierte Milieu der Werbecomics vor. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Deutschland schriftliche Werbung für die aufkommende Konsumgesellschaft in Form von kostenfreien Kunden­zeitschriften populär. In ihr finden die Werbecomics ihren Anfang. Dass diese Comic-Tradition in Deutsch­land kaum Beachtung erfahren hat, führt Malone auch auf ihre pragmatische Funktion zurück: Weder zum literarischen noch zum journalistischen Feld gehörig, dienten die in den Zeitschriften publizierten Comics einem ökonomischen Zweck. Finanzielles statt kulturelles Kapital – das Genre lieferte Werbung, um die Verkaufszahlen von Produkten zu steigern und setzte sich somit von den zeitgenössischen Bildergeschichten ab. Dennoch sind die Werke nicht in die Fußnoten der Comichistorie zu verbannen, wie Malone argumentierte. Der Vortrag rekonstruierte die Geschichte eines adaptiven, langlebigen Mediums: Anhand zahlreicher Detailanalysen, die das Publikum mit Darbohnes Erlebnisse und Die Rama-Post vom kleinen Coco (beides ab 1930) vertraut machten, argumentierte Malone, dass Comics in Deutschland auch in Werbezeitschriften ihren Anfang nehmen – ein Befund, der auch zu einem Neuanfang der Comic-Historigrafie in diesem vergessenen Publikationsfeld herausfordert.

Cord Christian Casper und Camilla Murgia.

Camilla Murgia aus Genf widmete sich in ihrem Vortrag Speech Balloons, Bubbles and Captions: The Rise of Narrative in 18th Century British Comics der Entwicklung von Narrativität in Bildern des 18. Jahrhunderts in Großbritannien. Murgia sieht einen Anfang der Narrativität bei William Hogarth, der in Canicularii, or the Wise Men of Godliman in Consultation (1927) durch das Hinzufügen von Buchstaben an die Personen im Bild und einer erklärenden Legende darunter mit den Abbildungs­konventionen seiner Zeit bricht. Aus satirischen Auseinander­setzungen dieses Bildes und der Rezeptionen durch andere Künstler_innen folgte eine zunehmend ausdifferenziertere, textuelle Parallelnarration – und ein Formeninventar von Beschriftungen und Sprechblasen zur Erzählung der Gedanken einzelner Personen. Matthew Darly und George Edwards etablierten darüber hinaus verschiedene Formen der Sprechblasen. Murgia verknüpfte diesen Formwandel mit der explosionsartig ansteigenden Nachfrage nach sozialer, moralischer, politischer oder ökonomischer Darstellung und Kommentierung in der expandierenden britischen print culture. Murgia schlug Kriterien vor, anhand derer der Einzug der Narrativität in die Bilder nachvollzogen werden kann – und zeigte die Entwicklung narrativer Konventionen anhand zahlreicher satirischer und karikaturistischer Beispiele auf.

Panel 3

Nach den historischen Anfängen lud der Vortrag von Janek Scholz aus Aachen zu der Betrachtung formaler Anfänge ein. Unter dem Titel Game Over and Reset behandelte er serielle Neuanfänge im Comic Daytripper von Fábio Moon und Gabriel Bá. Scholz verfolgte die These, dass »narrative Strategien«, »intermediale Bezüge« sowie »wieder­kehrende Motive« im Comic Serialität erzeugen. Das narrative Modell des Comics beruht darauf, dass die einzelnen, vermeintlich ›abgeschlossenen‹ Kapitel kontinuierlich aufeinander verweisen; durch die achronologische Erzählweise werden beständig Informationen nachgeliefert, die die Leser_innen zu einer Re-Lektüre der vorherigen Kapitel auffordern – eine Aufforderung zum Neuanfang, die Scholz diagramma­tisch nachzeichnete. Die intermedialen Bezüge des Comics finden sich hauptsächlich in dessen diversen Bild­zitaten und führen die Rezipienten an das zentral gesetzte Thema ›Sterblichkeit‹ heran. Speichermedien (wie z. B. Bücher) legen die Neuanfänge an, ohne dass ihnen notwendigerweise ein Ende vorausgehen muss.

David Turgay zu den ersten Seiten in Wonder Woman.

David Turgay aus Wörth begann seinen Vortrag First Page, First Issue, New Volume: Starting a Character Again and Again mit einer Zusammenfassung der Entstehungsgründe neuer Comicserien. Neben dem Versprechen, etwas narrativ ›Neues‹ zu etablieren, würden häufig neue Autor_innen und Zeichner_innen eingeführt oder ein neuer Status Quo der dargestellten Welt etabliert. Neben diesen inhaltlichen Gründen spielten jedoch auch wirtschaftliche Interessen eine zentrale Rolle. Die ›erste Seite‹ eines Comics hat diverse Anfänge zu etablieren, wie Turgay darlegte: Sie muss nicht nur das Interesse der Leser_innen wecken, sondern auch einleitende Informationen liefern und eine deutliche Verbindung zwischen dem Cover und den folgenden Seiten herstellen. Turgay erläuterte anhand zahlreicher reboots (unter anderem Captain America, Wonder Woman und The Avengers) deren unterschiedliche Ausprägungen, Eigenheiten und Funktionen. Hierbei wird deutlich, dass reboots einerseits auf historische und gesellschaftliche Veränderungen eingehen, andererseits ihre Held_innen jedoch auch mit vermeintlich ›zeitlosen‹ Werten ausstatten, auf die dann immer wieder rekurriert wird.

Anina Klappert zu den Anfängen in Chris Wares Building Stories.

Das dritte Panel schloss mit einem Vortrag von Annina Klappert aus Erfurt mit dem Titel Anders Anfangen: Building Stories von Chris Ware. Für Klappert ist Building Stories als ergodische Literatur lesbar – d. h. der Weg zur Lektüre muss erst von der Leser_in erarbeitet werden. Der Comic bietet seinen Leser_innen 14 Möglichkeiten, anzufangen. Nicht nur die Einsätze der Narration werden verwischt (die Geschichte hat schon angefangen, bevor sie ›anfängt‹), die Geschichten können auch aus unterschiedlichen Perspektiven oder alternierend als Gegenwart und Rückblenden erzählt werden. Annina Klappert kommt zu dem Ergebnis, dass zwar ein »Anfang des Geschehens« ausgemacht werden kann, jedoch kein »Anfang des Erzählens«. Der Comic verwebt die Orientierung der Protagonist_innen im Haus mit dem Konzept der Erinnerungen; der Titel Building Stories bietet dabei mehrere Lesarten an: das Konstruieren von Etagen oder das Konstruieren von Geschichten, »Gebäude-Etagen« oder »Gebäudegeschichten«, »Geschichten über das Gebäude« oder »Geschichten des Gebäudes«. Es werden also anhand des Hauses – wie Klappert mit präziser Anwendung narratologischer Kategorien ausführte – Erinnerungsgeschichten konstruiert. Erinnerung – so die These – kennt keinen Anfang und kein Ende, Erinnerungsprozesse sind stets iterativ angelegt, so dass Geschichte bedeutet, immer wieder neu anzufangen.

Silke Horstkotte aus Warwick, UK präsentierte in ihrer Keynote New Text, New World eine Klassifikation formaler Anfänge: In detaillierten Analysen stellte sie die ontologische Dominante der Postmoderne anhand von David Mazzucchellis Asterios Polyp der phänomenologischen Dominante in Comics gegenüber – deren comicspezifischer Ausprägung sie in der grafischen Narration von Serienmorden nachging. Horstkottes Vortrag schlug für die Markierung dieser Dominanten ein ausdifferenziertes formales und philosophisches Begriffsinventar vor, mittels dessen Fragen nach der Autorität der Erzählinstanz bildlich und stilistisch evoziert werden, noch bevor sie explizit thematisiert werden.

Konferenzdinner am Samstagabend in der Traum GmbH.

Sonntag, 11.09.2016

Panel 4

Bettina Egger aus Salzburg sprach unter dem Titel Die polemische Ästhetik der Association: Neuanfang im Comic, Beginn des Buches? über den französischen Independent-Comic-Verlag l’Association. Der Verlag definiert zu Beginn der 1990er Jahre das Format des Comicbuchs in Europa neu. Bis dahin ist in Frankreich das einheitliche Albumformat dominant, das die Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltung bestimmt. Die Gründer von l’Association wollen sich demgegenüber eher literarischen Vorbildern annähern. In Abgrenzung von Genre-Comics der 1980er Jahre wollen sie Distinktion im Comicfeld nicht nur inhaltlich, sondern vor allem durch die Länge und formale Gestaltung der Bände erreichen. Das Comicbuch konzipieren sie als Künstlerbuch. Egger zeichnete an vielen Beispielen nach, dass l’Association diesen Ambitionen tatsächlich gerecht wurde und nachhaltigen Einfluss auf die europäische Comiclandschaft nahm.

Pascal Lefèvre aus Brüssel stellte in seinem Vortrag mit dem Titel Publication Format and Beginnings dar, wie die wöchentlichen Comic-Magazine die Erzählweise der frankobelgischen Comics beeinflussen. Der Zeichenstil dieser Magazine, wie zum Beispiel Tintin oder Spirou, ist oft einheitlich: die etablierten Zeichner_innen vermitteln dem Nachwuchs einen group style, der wiederum nicht monolithisch ist, sondern Abwandlungen möglich macht. Lefèvre ging der Frage nach, wie Gestaltungspraktiken den Anfang der Serien determi­nierten, welche Funktion ihnen zukam und welchen Veränderungen sie unterworfen waren. Da jede Woche nur eine oder zwei Seiten einer Fortsetzungs­geschichte erscheinen, muss jedes Panel viele Informationen übermitteln. Die ersten Panels müssen die Leser_innen fesseln, das letzte muss als Cliffhanger funktio­nieren, damit das nächste Heft gekauft wird. Erst später werden diese Fortsetzungs­geschichten zu Alben zusammengefasst und neu publiziert. Mit dem Formatwechsel verändert sich die Rolle des Anfangs. In den Wochenheften ist das erste Panel jeder Seite ein Anfang. Diese Rolle haben später nur noch die ersten Panels des Albums. Lefèvres materialreiches close reading der Comic-Artefakte wirkte so als Plädoyer für den präziseren Einbezug des Publikationskontextes in die Analyse (nicht nur) der Comicanfänge.

Panel 5

Lukas R. A. Wilde zu den Manga-Hinweisschildern im japanischen Alltag.

Lukas R. A. Wilde aus Tübingen beschäftigte sich in seinem Vortrag mit einem Phänomen, das zur Jahrtausendwende in Japan seinen Anfang nimmt: auf Schildern, Verpackungen und sogar beim Zoll oder vor Gefängnissen tauchen Maskottchen und Manga-Symboliken auf, die erklären, repräsentieren und anleiten. In seinem Vortrag Die Basis-Narrativität der Manga-Bildlichkeit: Zur neuen Mangaisierung des japanischen Alltags spürte Wilde anhand verschiedenster Beispiele der Funktion dieser »Manga-Bildsprache« nach. Im öffentlichen Raum sind die »mangaisierten« Bilder auf Straßen- und Hinweisschildern, aber auch in Form von Maskottchen zu finden. Der Vortrag schließt sich neueren Manga-Theorien an, die den Figuren vor allem eine Identitätspräsenz zuweisen, die über das jeweilige Bild hinausgeht. Die funktionale Alltagskommunikation macht sich Eigenschaften der »Comichaftigkeit« zunutze – die Wilde als prototypische Kategorie vorstellte. Die Figuren – ob sie nun Verhaltensregeln in der Bahn näherbringen oder als Vertreter einer Region fungieren – zeichnen sich dabei vor allem durch eine Basis-Narrativität aus: Sie stellen eine Situation dar und eröffnen einen dritten Zeichenraum, in dem Betrachter_innen immer wieder aushandeln können, was als Element der Darstellung und was als Dargestelltes angesehen werden kann.

Jasmin Böschen spricht über Unflattening von Nick Sousanis.

Auch Jasmin Böschen aus Hamburg ging einem Neuanfang des Umgangs mit Comics nach – von der Alltagskommunikation in Japan ging das Panel mit ihrem Vortrag zu Neuanfängen didaktischer Kommunikation über. In Neuanfang in der Wissenschaft? Comic als Initiator für Visuelle Bildung beleuchtete Böschen die Nutzung von Bildern als Forschungsmethode. Die Grundlage für ihren Vortrag bildete die erste Dissertation in Comic-Form: Unflattening von Nick Sousanis. Böschen stellte die besondere didaktische Leistung von Comics heraus: Indem Bild und Text kombiniert werden, können auch Theorie und Praxis neu reflektiert werden. Die Frage nach dem Anfang wird in Unflattening immer wieder in den Raum gestellt. Ähnlich wie bei Chris Wares Building Stories zeigt sich bei dieser Herangehensweise die Idee einer nichtlinearen und tangentialen Denkbewegung. Im Gegensatz zum Text oder Film ist der Rezipient nicht gezwungen, einem zeitlich oder räumlich festgelegten Ablauf zu folgen, sondern kann unabhängige Verknüpfungen bilden. Böschen zeigte sich optimistisch, dass die Leistung von Bildern, Wissen ›begreifbar‹ zu machen – und einen Zwischenbereich im Spannungsfeld von Bild und Text zu eröffnen – neue didaktische Anfänge möglich macht.

Diskussion

Zum Ende der Konferenz setzten sich Annina Klappert und Paul M. Malone unter der Moderation von Ullrich Cochanski zu einer Abschlussdiskussion zusammen, in der auf die Themen der einzelnen Panel eingegangen werden und Fragen zum Anfang und Neuanfang geklärt werden konnten.

Diskutiert wurde die Markierung von Anfängen zwischen erster Seite, Cover, Paratexten und deren Einlagerung in Kontexte, Serien, Charaktere, Genres, Gattungen, Kunstformen – und deren jeweiligen Anfängen. Mit Verweis auf die in der Konferenz behandelte Bandbreite der Comics zwischen Superhelden und dem Griff nach kulturellem Kapital wurde auch die diskursive Funktion der Anfänge diskutiert – und die Verbindung eines Anfangs mit Diskursmacht. Ein großer Diskussionsbedarf ergab sich auch zu der Frage, wo der Anfang oder der Neuanfang anzusetzen sei. Schließlich zeigt die Neugier auf einen bestimmten Comic und die Kaufentscheidung, dass die Rezeption bereits vor dem Kauf beginnt und der Anfang nicht der Moment ist, in dem die Leser_in den Comic aufschlägt. Zudem definiert jedes Neue ein neues ›Altes‹ und das Neue wird ebenfalls von etwas neuem ›Neuen‹ verdrängt.

Abschlussdiskussion.

Ausgelöst durch den Anfang wurde in der Abschluss­diskussion natürlich auch nach dem Ende und seinem Verhältnis zum Anfang gefragt. Auch gescheiterte Anfänge wurden thematisiert – und der Neuanfang in neuen Medien und Rezipient_innen­gruppen. Dem Ende einer Comic-Serie kann ein Anfang innewohnen: und sei es als Fanfiction im Internet.

Die Spezifizität des Comic-Anfangs erfuhr besondere Aufmerksamkeit – immerhin ist Chris Wares Building Stories nicht das einzige Beispiel ergodischer Medien und der Versuch essentialistischer Comic-Definition (Text und Bild! Panel-Verbindungen!) ein unabschließbares Projekt, in dem Medien-Essentialismus zu vermeiden ist.

Den Schluss bildete die Diskussion darum, dass Anfänge (und die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen) auch im Kontext kultureller und ökonomischer Macht betrachtet werden müssen: mit Besitz, Deutung und Analyse entsteht »Macht über den Anfang«.

Bei aller Neigung zum Anfang – die origin story der Kieler Comic Konferenz ging mit vielstimmigem Dank zu Ende: an die Unterstützer_innen von der Thyssen-Stiftung, die Universität Kiel, den Buchladen Zapata, die Gestalterinnen unseres Plakats, Marleen Krallmann und Nora Grunwald, sowie, insbesondere, unsere Vortragenden, ohne die dieser Anfang nicht möglich gewesen wäre.