PDF

Porno-Zombies quatschen Kauderwelsch
Was hat Alan Moore sich bei dieser krassen Wünsch-Fiction nur gehirnt?

Crossed + Einhundert rezensiert von Gerrit Lungershausen

Alan Moore hat etwas Verrücktes ausgeheckt, und Gabriel Andrade hat es gezeichnet: ein post­apokalyptisches Vergewaltigungsszenario mit Zombies, deren Fleischeslust wörtlich wie bildhaft zu verstehen ist. Das eigentliche Wagnis aber ist die Sprache.

Zombies zählen nicht erst seit Kirkmans The Walking Dead zu den Superstars der sadistisch-kanniba­listischen Monsterwesen, dennoch kann man die erwartbaren Tabubrüche (die längst keine mehr sind) noch potenzieren, zum Beispiel durch Sex mit Untoten. Scheint dieser bei Vampiren gang und gäbe (true blood), ist er bei Zombies drastischer, zumal er genregemäß alles andere als einvernehmlich geschieht. Garth Ennis (A) und Jacen Burrows (Z) haben 2008 die Comic-Serie Crossed ins Leben gerufen, in der ein unbekannter Virus eine Zombie-Apokalypse verursacht, deren blutrünstige Täter_innen ihre Opfer nicht nur anknabbern, fressen, zerfleischen und ausweiden, sondern auch stets vergewaltigen. Alan Moore hat nun den ersten Band des Spin-offs Crossed +100 zusammen mit dem Zeichner Gabriel Andrade verfasst, ein Segen für die sonst bisweilen einfallslose Serie, ein Gewinn für das Zombie-Genre, ein Alptraum für Freund_innen der leichten Lektüre.

Die Welt, die Moore und Andrade entwerfen, hat die verheerende Zombie-Apokalypse 2008 überstanden, sie liegt nun genau hundert Jahre zurück und hat eine Gesellschaft hinterlassen, die technologisch zwischen den Zeiten steht: Das 20. Jahrhundert erscheint wie weggewischt, die Figuren reiten auf Pferden, fahren Raddampfer oder durchqueren die USA mit einer Dampflokomotive. Ein mit Leichenteilen behangenes Windkraftrad ist einer der wenigen Zeugen unserer Gegenwart, in der Welt von Crossed + Einhundert, so der Titel in der auf Deutsch vorliegenden Übersetzung, steht es funktionslos inmitten eines hölzernen Forts: eine postindustrielle Westernwelt wie in der TV-Serie revolution (seit 2014) oder dem Kinodesaster the book of eli (2010). In diesem Setting haben die Menschen die Zombifizierung der Welt erst überlebt und sich dann häuslich darin eingerichtet.

Die Story ist vielen Apokalypseszenarien ähnlich (The Walking Dead von Robert Kirkman, Zombie von Peru/Cholet), setzt aber doch so manchen interessanten Akzent: So ist es ein spannender twist, dass die Zombies, wie die Figuren und mit ihnen die Leser_innen, erst am Ende erfahren, in ihrer hundertjährigen Artengeschichte eine Parallelgesellschaft unter der Führung eines Soziopathen aufgebaut haben. Dieser, Beauregard Leander Salt, geht seinen antihumanen Vernichtungsfeldzug ganz strategisch an und plant die Entwicklung einer überlegenen Zombiepopulation. Einer aus ihren Reihen wird ausgebildet, sich wie ein Nicht-Infizierter zu verhalten, damit er als Trojanisches Pferd schließlich den Untoten hilft, die Hegemonie auf dem Kontinent zu erlangen. Als dieser Verräter entpuppt sich schließlich ausgerechnet der Anführer der menschlichen Überlebenden. Mit dieser Entdeckung und der Konfrontation der beiden Zivilisationen endet der erste Band. Zombies und Menschen werden wie in Richard Mathesons Zombieroman I am Legend (1954) und insbesondere in der Verfilmung von 2007 nicht als grundverschiedene Lebensformen konzipiert, sondern in ihren Ähnlichkeiten betont: Wer sind eigentlich die ›anderen‹: Sind wir es nicht letztendlich selbst? Die Zombie-Gesellschaft ist keine stagnierende, wie in den meisten Zombie-Erzählungen, sondern entwickelt Rituale, langfristige Überlebensstrategien, hierarchische Verhältnisse. Sie erarbeitet einen bösen Plan, und dieser scheint tragischerweise wirkungsvoller als derjenige der Menschen.

Mit den Menschen hat sich vor allem die Sprache weiterentwickelt: In einem kruden Mix aus Neologismen schwurbeln die Figuren miteinander, bis man als Leser_in dazu geneigt ist, in seiner Hilflosigkeit eine Vokabeltabelle anzufertigen: ›hirnen‹ meint ›denken‹, ›Wünsch-Fiction‹ ist ›Science-Fiction‹ und ›braun‹ ist ›Mist‹. So wird ein kurzer Dialog zwischen Keller und Taylor zum dadaistischen Rätsel: »Also, da kicken sie hin. Hup, Taylor, hab vom Braun mit den Slems gehorcht …« – »Nun, damals in 04, als Robbie gehirnbabyt hat, unsere Vögel zu ringen, hirnten die peoples, wir wären Kruzifix. Er hat immer sehr recht, wohl.« Übersetzt ins konventionelle Altsprech unserer zombielosen Zeit: ›Also, da brechen sie auf. Taylor, ich habe von dem Mist mit den Slems [einer konkurrierenden Menschenkolonie] gehört.‹ – ›Nun, damals, 2104, als Robbie sich vorstellte, unsere Vögel zu beringen, dachten die Leute, wir seien verrückt. Er hat immer vollkommen recht.‹ Die Sprache ist, sehr höflich formuliert, eine starke Herausforderung: Vor allem die Wortneuschöpfungen und bildhafte Sprache erschweren die Lektüre ganz erheblich, trotz selbstgebastelten Vokabulariums. Die Übersetzung muss sich zugleich am Original messen als auch an zu erwartenden sprachlichen Veränderungen des Deutschen. Die häufigen Anglizismen erscheinen kausallogisch eher fehl am Platze, immerhin würde der Einfluss des Englischen nach Zusammenbruch aller Massenmedien wohl eher sinken. Vielleicht soll dies aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Handlung in den USA spielt. Die Sprache wirkt allzu bemüht, aber in einer Welt, in der auf den Schultern weniger Individuen nicht nur der Fortbestand der Menschheit lastet, sondern auch die Entwicklung der Sprache, mag alles irgendwie möglich sein. Der Übersetzer, Marc-Oliver Frisch, hat einen ungewöhnlich schweren Job gehabt. Aber warum hat sogar der englische Titel Crossed +100 eine Übersetzung in Crossed + Einhundert gebraucht?

Während die Sprache (in der Übersetzung insbesondere) ein Stolperstein ist, wirkt die grafische Gestaltung nicht spektakulär, aber gefällig, und scheut sich keineswegs vor drastischen Darstellungen. Gegenüber den Bänden der regulären Crossed-Reihe, die von unterschiedlichen Autoren und Zeichnern gestaltet wird, sticht die Optik positiv hervor, zurückhaltender in den Gewaltexzessen, dafür aber detailverliebter: Auf der Suche der Menschen nach der kollektiven Vergangenheit in verwilderten Bibliotheken entdeckt die Leser_in immer wieder Buchtitel im Hintergrund, die auf den Science-Fiction- und Dystopie-Kontext verweisen: Asimov, Tolkien, Orwell, aber auch Dan Brown haben die Zombie-Apokalypse in Buchregalen überlebt. Ob dieser Comic es so auf die Shortlist der Welches-Buch-nehme-ich-auf-der-Flucht-vor-Zombiehorden-Liste schaffen wird?

Ja – zum einen, weil Alan Moore und Gabriel Andrade eine auf Anhieb schwer zugängliche Zombie-Welt geschaffen haben, einen pessimistischen Weltausschnitt, der vielleicht der schlechtesten aller möglichen Welten entstammt. Nein – weil ich neugieriger bin auf das englischsprachige Original. Das würde ich mitnehmen, zusammen mit einem alten Langenscheidt-Lexikon und einem sprachwissenschaftlichen Handbuch. Und dann sollen sie kommen, die blutrünstigen Zombies, ich würde tapfer weiterlesen bis zur letzten Seite.

 

Crossed + Einhundert
Band 1
Alan Moore (W), Gabriel Andrade (P)
Stuttgart: Panini Comics, 2015
148 S., 19,99 Euro