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Genette returns
Ein Analysemodell fĂĽr Palimpseste in Comicform

Literaturadaptionen im Comic rezensiert von Julia Ingold

Seit dem Hype um die Graphic Novel laufen Literaturadaptionen Amok. Zu einer Zeit, da sich die orientierungslose Forschungsgemeinschaft nach Ordnung sehnt, erscheint Juliane Blank auf der Bildfläche. Mutig stellt sie sich der Flut an Publikationen. Sie entwickelt nachvollziehbar ihre Klassifikation für ›Literaturadaptionen im Comic‹ und öffnet der Comicforschung für Möglichkeiten und Eigenarten ihres Gegenstands neu die Augen.

Juliane Blanks Dissertation Literaturadaptionen im Comic. Ein modulares Analysemodell ist mit ihren knapp 400 Seiten zum echten Schmöker geraten. Versenken können sich die Leser_innen vor allem in eines: in den Denkprozess der Autorin. Teilweise kann man förmlich ihren Kopf rauchen spüren. Das ist eine ungewöhnliche, neue Art der geisteswissenschaftlichen Theoriebildung. Sie präsentiert kein steifes System, das sie dann mit Beispielen auffüllt, sondern legt den Weg zu einer Art Checkliste offen, die je nach Gegenstand und Fragestellung ganz individuell angepasst werden kann und sollte. Beim Lesen herrscht deshalb vielmehr das Gefühl eines Dialogs als das eines Monologs. Die Forschenden müssen jede Kategorie mit dem konkreten Comic, den sie zu analysieren gedenken, abgleichen und stehen so im Austausch mit dem Text. Blank findet die Balance zwischen offener Gesprächsbereitschaft und kompetenter Beobachtung. Ihre Gedanken legt sie in drei großen Schritten dar. Im ersten Teil ›Theorie und Modell‹ erläutert Blank ihr Analyseinstrumentarium. Im Kapitel ›Analyse‹ erprobt sie es an fünf Adaptionen von deutschsprachigen Texten. Im dritten Abschnitt ›Synthese‹ entwirft sie eine »offene Klassifikation«.

Nach einführenden Kapiteln über die ›Ein- und Abgrenzung des Gegenstands Literaturadaption im Comic‹, ›Visualisierungen literarischer Texte im Allgemeinen‹, die ›Möglichkeiten einer intermedialen Literaturwissenschaft‹ und einem ›Überblick über die Comicforschung‹ folgt der Kern des ersten Abschnitts, das Analysemodell. Blank schlägt darin acht Kategorien vor, anhand derer Forscher_innen die Adaptionen in ihren Eigenschaften erfassen können. Analysekategorie eins ist der ›Prätext‹. Sie schlägt vor, diesen auf seine ›Kanonizität‹ hin zu überprüfen. Hinzu kommen die ›Gattungsspezifika‹ und die Sprache. Literarische Klassiker werden ebenso adaptiert wie aktuelle Bestseller. Blank stellt fest, dass Adaptionen von Werken, die einem breiteren Publikum bekannt sein dürften, bei Weitem überwiegen. Der Status des Ausgangstextes hat eine Auswirkung auf die Rezeption der Adaption insbesondere im Zusammenhang mit Analysekategorie zwei, der ›Oberfläche des Comics‹. Denn hier wird auf den ersten Blick klar, wie sich der Comic zu dem Prätext verhält. Anhand der Unterkategorien ›Technik‹, ›Panelrahmung‹, ›Comic-Haftigkeit‹ bzw. realistischere vs. cartoonistischere Ästhetik‹, ›Leitmotive‹, ›Sprachgestalt‹ und ›Intra- und intermediale Bezüge auf der Oberfläche des Comics‹ soll der Stil erschlossen werden. Hier geht es also nicht um die Handlung, sondern darum, welche Art Comic die Adaption darstellt, das heißt in welche Stil- und damit auch Genre-Tradition sie sich einreiht. Denn dadurch werden im Grunde Gattungsspezifika des Comics aufgerufen. Handelt es sich um cartooneske Zeichnungen, liegt eine humoristische Version des Prätextes nahe. Sind die Zeichnungen realistisch, könnte die Adaption relativ texttreu sein. Ist die Ästhetik des Comics experimentell, lässt das auf anspruchsvolle künstlerische Eigenständigkeit schließen. Konsequenterweise folgt auf die Analyse der Oberfläche die der ›Handlung‹. Hier müssen Kürzungen, Ergänzungen oder Veränderungen beschrieben werden. In der vierten Analysekategorie ›Figurendarstellung‹ geht es um die handelnden Personen der adaptierten Narrative in ihrer formalen und inhaltlichen Gestalt. Dabei ist eine Synthese aus Beobachtungen über Oberfläche und Handlung notwendig, denn die Taten und der sprachliche Ausdruck tragen ebenso zur Charakterzeichnung bei wie die konkrete Physiognomie, Mimik und Gestik. Die fünfte Kategorie ›Szenerie‹ dreht sich um ›Raumdarstellung im Allgemeinen‹, ›Entwerfen von konkreten Räumen oder Landschaften‹ und ›Innenräume und ihre Ausstattung‹ und geht so wieder einen Schritt zurück. Diese Reihenfolge ist nicht ganz einleuchtend, denn die Raumdarstellung findet freilich nur auf der Oberfläche des Comics statt. Die ›Szenerie‹ sollte eine Unterkategorie der ›Oberfläche‹ sein. Wenn sie so wichtig ist, dass sie eine eigene Analysekategorie bildet, so wäre es zumindest sinnvoll gewesen, diese beiden direkt hintereinander zu platzieren. So hätte sich die folgende sechste Analysekategorie ›Perspektivierung‹ auch schöner in die Reihe gefügt, In dieser, von der klassischen Erzähltheorie abhängigen Kategorie, geht es darum, zu beschreiben, wie die Lesenden die Handlung wieder auf formaler und inhaltlicher Ebene vermittelt bekommen. Unter den Aspekten ›Einstellungsgrößen‹, ›Blickwinkel‹, ›Fokalisierung‹ und ›Verteilung des Textmaterials‹ lässt sich die sukzessive Preisgabe der Informationen herausarbeiten. Schließlich geht es vom Kern-›Text‹ zur siebten Analysekategorie ›Paratext‹, wo alles zusätzliche Material zur Adaption, vom Vorwort bis zum Abdruck des gesamten Prätextes, berücksichtigt wird. Die letzte Analysekategorie ›Kontext‹ erfasst die Entstehungs- und Publikationsumstände. Blank hält die Forscher_innen immer wieder dazu an, diese Analysekategorien ihren eigenen Fragestellungen gemäß zu modifizieren, versteht ihre Vorschläge als »eine gewisse Do-it-yourself-Aufforderung« (368).

Im zweiten großen Kapitel ›Analyse‹ erprobt Blank ihr Instrumentarium an fünf Adaptionen aus den Jahren 1996 bis 2011. Dabei teilt sie die Entwicklung von Literaturadaptionen in eine Zeit vor und eine Zeit nach dem ›Hype‹ ein, der etwa um die Jahrtausendwende beginnt. Vor dem Hype erscheint Isabel Kreitz’ Die Entdeckung der Currywurst (1996) als Adaption von Uwe Timms Bestseller. Dieser Version diagnostiziert Blank ein Streben nach Realismus und Texttreue, soweit das Publikationsformat des klassischen Albums das zulässt. Die folgenden Werke zeichnen sich durch eine fortgeschrittene Emanzipation bis hin zu Kongenialität aus: Chantal Montelliers und David Z. Mairowitz’ Franz Kafka’s The Trial. A Graphic Novel (2008), Manuele Fiors Mademoiselle Else (2009), Flix’ Faust. Der Tragödie erster Teil (2010) und Alexandra Kardinars und Volker Schlechts Das Fräulein von Scuderi (2011). In diesem Kapitel exerziert Blank mit jedem der Werke ihre Analysekategorien durch und kommt meistens zu sehr, selten zu weniger überzeugenden Schlussfolgerungen. Schön ist zum Beispiel zu lesen, wie Blank aus der Adaption von E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi visuelle Parallelen zur Struktur, Stimmung und Metaphorik des Prosatextes herausarbeitet. Aus den Ergebnissen gewinnt sie eine Liste von Adaptionsstrategien, die sie im dritten Teil genauer charakterisiert.

Im abschließenden Kapitel ›Synthese‹ findet sich unter ›Häufige Strategien in Literaturadaptionen im Comic‹ eine Liste von »Modulen« oder »Bausteinen« (367). Das heißt, dass diese Strategien in jeder Literaturadaption im Comic unterschiedlich kombiniert sein können. Anhand des Analyseinstrumentariums sollen sie aufgedeckt werden. Sie zählt auf: ›Straffung und Begradigung‹ in Bezug auf die Handlung sowie ›Vereinfachung und Bereinigung‹, ebenso die Handlung betreffend. Zu ›Intensivierung und Vereindeutigung‹ leistet die Visualisierung einen entscheidenden Beitrag. ›Strukturelle Aneignung‹ heißt: »Die Elemente des Prätextes werden von den Adaptierenden auseinandergenommen und neu zusammengesetzt« (325). ›Historisierung und Modernisierung‹ kann auf allen Ebenen stattfinden, in der Story genauso wie im Setting. ›Erzeugen von Empathie‹ ist ebenso sowohl formal als auch inhaltlich möglich. Hinzu kommt ›Komisierung‹ des Prätextes bis hin zur Satire. Bei der ›Erweiterung des Bezugshorizontes‹ ergänzen die Adaptierenden Bedeutungsdimensionen und eigene Interpretationen. ›Erhalten bzw. Erzeugen von Komplexität‹ ist ein Vorgang, der das ›Wie‹ des Erzählens bei Prätext und Palimpsest betrifft. ›Dekonstruktion von ästhetischer Illusion‹ entsteht durch selbstreflexive Momente. Diese Liste besteht aus sehr unterschiedlichen Strategien, die auf verschiedenen Ebenen zu suchen sind. Gemeinsam ist ihnen, so Blank, dass sie benennen, was mit dem Prätext in der Adaption geschehen ist (13). Blank zeigt zum Beispiel, dass Flix’ Faust-Adaption den Prätext bereinigt, modernisiert und komisiert. Der Comic als komplexes und ›intermediales Medium‹ (vgl. 54) verlangt nach Klassifikationen, die seiner grundsätzlichen Verschränkung verschiedener Codes sowie seiner ›Bild-Sprache‹, in der Form und Inhalt nicht mehr zu unterscheiden sind, gerecht werden. Deshalb ist es angemessen, dass Blank nicht versucht, diese Ebenen konsequent zu trennen. Trotzdem stellt sich die Frage, warum neben der ›Komisierung‹ oder dem ›Erzeugen von Empathie‹ nicht auch deren Gegenteile aufgelistet sind. Genauso ist nicht ganz klar, warum ›Straffung und Begradigung‹ nicht unter die übergeordnete Strategie der ›strukturellen Aneignung‹ fallen, wo es um die Neuordnung des gegebenen Materials geht. Die Kategorie ›Bereinigung‹ scheint sehr von ideologischen Annahmen der jeweiligen Forscher_innen abhängig. Blank zum Beispiel sieht eine solche darin, dass Flix’ Faust sein ›Gretchen‹ nicht schwängert und sitzen lässt. Wobei sie nebenbei einstreut, dass dieses Skandalon für das bürgerliche FAZ-Publikum, das die Adaption als wöchentlichen Comic-Strip zuerst zu lesen bekam, wohl nicht zumutbar gewesen wäre (vgl. 320). Diese Aussage ist recht vage und pauschal und angesichts der heutigen heterogenen Medienwelt wohl nicht haltbar.

Bei den Analysekategorien berücksichtigt Blank verschiedenste Dimensionen der Adaption, den Prätext, künstlerische Aspekte wie den Stil, inhaltliche Aspekte wie die Handlung und soziologische Aspekte wie den Kontext. Das ist sehr weitsichtig und anregend. Bei den späteren Kategorien jedoch wäre ein wenig mehr ›Ordnung‹ eventuell hilfreich gewesen. ›Straffung und Begradigung‹ zum Beispiel betrifft hauptsächlich die Handlungsebene des Prätextes und ist ein rein ›technischer‹ Fakt, der durch Analyse bewiesen werden kann. Dagegen setzt die Diagnose von ›Komisierung‹ oder ›Erzeugen von Empathie‹ eine Interpretationsleistung voraus, die sich an der Rezeption orientiert und damit die strukturelle Ebene des Comics verlässt. Da Blank aber durchgehend einstreut, es sei »unangebracht –, ein Set von fixen Adaptionstypen zu erstellen, da dieses Set im Prinzip von jeder neu erscheinenden Adaption gesprengt werden könnte« (303), ist ihr »offenes« (367) Klassifikationsmodell nicht wirklich angreifbar. Sie nennt ihren Ansatz »flexibel und erweiterbar« (367) und erwartet von zukünftigen Forscher_innen, ihn für die jeweils konkrete Fragestellung anzupassen und fruchtbar zu machen (z. B. 18, 303, 367f.). Ihre Leser_innen mögen selbst entscheiden, ob dies eine wahrhaft offene und innovative Form der Theoriebildung darstellt oder ob sich darin eine latente Unsicherheit über die eigene Leistung offenbart.

Erst in Zukunft wird sich erweisen, ob ihre, wie sie es ausdrückt, »unverzichtbare Grundlagenarbeit auf einem chronisch untersystematisierten Gebiet« (367) den Forscher_innen helfen wird, die ›amoklaufenden‹ Adaptionen zu bändigen. Ihre Dissertationsschrift versteht sie als Denkanstoß und Arbeitsgrundlage. Sie schreibt das Buch in dem vollen Bewusstsein, dass nicht alles darin eingeteilt werden muss, sondern dass es die Adaptionen beschreibbar machen soll. Sie will den Forscher_innen die Augen öffnen für die große Vielfalt und bietet ihnen Listen mit Analysekategorien und Adaptionsstrategien, anhand derer sie ihre Augen schulen können. Was Genette in Palimpsestes für Literatur bietet, versucht Blank, freilich auf ganz andere Weise, für die Charakteristika des Mediums Comic zu erschließen, wobei sie die fortgeschrittene Theoretisierung filmischer Adaptionen berücksichtigt. Wer sich im deutschsprachigen Raum mit Literaturadaptionen im Comic beschäftigt, wird um dieses Werk vermutlich nicht mehr herumkommen.

Blanks Buch bildet den Auftakt zu der neuen Reihe Bildnarrative. Studien zu Comics und Bilderzählungen, herausgegeben von Monika Schmitz-Emans und Dietrich Grünewald. Zuletzt bleibt zu sagen, dass sich das Buch nicht nur aufgrund von Blanks unprätentiösem Schreibstil überaus angenehm liest. Der Verleger, Christian A. Bachmann, setzt seine Publikationen ästhetisch sehr ansprechend. Die Kombination der Schriftarten, die großzügig platzierten Fußnoten, die farbigen Abbildungen und der breite Rand machen das Fachbuch zum haptischen und visuellen Vergnügen.

 

Literaturadaptionen im Comic
Ein modulares Analysemodell
Juliane Blank
Berlin: Ch. A. Bachmann, 2015
404 S., 36,00 Euro
ISBN 978-3-941030-60-2