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Aufbruch in neue Sphären
Graphic Novels als 360°-Bilder

Magnetique rezensiert von Sandro Esquivel

360 Grad wohin man schaut: Panoramabilder, die einen Rundumblick auf Szenen ermöglichen, haben sich in den letzten Jahren im Sektor der digitalen Medien fest etabliert, 360°-Videos sind ebenfalls groß im Kommen. Die Zeit scheint also reif, auch die Graphic Novel von der beschränkten Ebene in die Sphäre zu erheben. Das Entwicklerteam Oniride demonstriert mit Magnetique erstmals, wie eine solche Zukunft digitaler Comics aussehen kann.

Der aktuelle Hype um die 360°-Medien lässt sich im Wesentlichen auf zwei Gründe zurückführen: Zum einen ist die Erstellung von Panoramabildern mittlerweile auf vielen Kamerageräten wie Smart Phones und Tablet-PCs verfügbar, relativ benutzerfreundlich und mit geringem Aufwand verbunden, die Darstellung und Interaktion solcher Daten ein Standardfeature aktueller Videoplayer. Zum anderen sind – zugegebener­maßen erst seit kürzerer Zeit – für Anwender_innen erschwingliche Virtual Reality-Headsets zur immersiven Betrachtung von 360°-Medien auf dem Markt (z. B. Samsung GearVR, Sony Playstation VR). Genau aus dieser Möglichkeit der Immersion – also dem Versetzen der Betrachter_in in die Mitte des Geschehens – ziehen 360°-Medien ihren Reiz. Fakt ist: Besonders im Bereich der Unterhaltungsmedien hat die Rezeption von Bildern und Videos in 360°, wie auch von Virtual Reality-Anwendungen im Allgemeinen, inzwischen ein breites Publikum gefunden. Besonders deutlich wurde das beispielsweise auf der San Diego Comic-Con diesen Jahres, auf der man von VR-Demos förmlich erschlagen wurde.

Es ist also nicht nur aus technischer Sicht eher überraschend, dass bisher noch keine Comicveröffentlichung im 360°-Format vorliegt. Diese Lücke versucht das in Rom ansässige Entwicklerteam Oniride, das auf die Erstellung von Virtual Reality-Medieninhalten spezialisiert ist, nun mit der digitalen Graphic Novel Magnetique zu füllen. Die erste Episode wurde im September 2016 kostenlos im Oculus Store veröffentlicht, ist aber momentan nur für GearVR verfügbar (zukünftige Episoden sind daneben auch für Oculus Rift angekündigt).

Das Lesen des Comics wird hier zur ganz neuen Erfahrung: Statt einzelne Seiten weiterzublättern, befindet man sich dank Virtual Reality-Headset mitten in der Szene und kann in dieser nur durch Drehen des Kopfes seinen Blick frei umherschweifen lassen. Per Tastendruck wird zur nächsten Szene weitergeschaltet. Jedes Panel wurde als vollständiges sphärisches Panorama gestaltet, wobei die einzelnen handgezeichneten Szenen- und Hintergrundelemente in einer 3D-Entwicklungsumgebung als Flächenobjekte in einem virtuellen Raum platziert und gerendet wurden. Dabei sind die für die Handlung relevanten Elemente meist räumlich rund um die Betrachter_in verteilt und müssen durch Änderung der Blickrichtung entdeckt werden. Im Gegensatz zu einer echten 3D-Visualisierung kann man sich zwar nicht frei im Raum bewegen, sondern lediglich umhersehen, was aber trotzdem schon recht beeindruckend wirkt. Während in bisherigen Virtual Reality-Anwendungen wie z. B. Virtual-Comics – denen sich der Aufsatz von Lars C. Grabbe in dieser Ausgabe ausführlich widmet – die Comicseite lediglich als Ebene in den virtuellen 3D-Raum eingebettet wird, wird hier die gesamte Umgebung zum Panel.

Ein Panoramabild entsteht aus digitalen ›Pappaufstellern‹.

Was die Handlung angeht, verrät die Website zu Magnetique mehr als die erste Episode, die eher Teaser als eigenständige Pilotfolge ist: Im Mittelpunkt der Handlung steht demnach die (Helden-?)Reise eines nebulösen Puppenspielers namens Nero durch die vom Bürgerkrieg heimgesuchte Küstenregion des fiktiven Landes Cyan, stilistisch vage im Steampunk angesiedelt.

In Episode 1 erlebt man aus der Sicht eines noch namenlosen Erzählers die Flucht von Dorfbewohner_innen vor angreifenden Kampfflugzeugen. Bei aller Kürze kommt das Potenzial der Immersion und Exploration in den ausgewählten Szenen gut zur Geltung: In den detailreichen Fluchtbildern zu Beginn fühlt man sich mitten im chaotischen Geschehen, und in den abschließenden Szenen, die den Protagonisten als Kind allein auf einem Floß in der nächtlichen See zeigen, springt die Stimmung der Verlassenheit unmittelbar auf die Betrachter_in über.

Die Perspektive macht’s – man findet sich mitten im Geschehen wieder.

Technisch überzeugt die Umsetzung durch weiches Schwenken, einen stimmungsvollen Ambient Score und sparsam eingesetzte Soundeffekte, sowie eine Zoom-Funktion zur besseren Lesbarkeit von Texten, die durch Anvisieren der Sprechblasen ausgelöst wird. Einen wesentlichen Beitrag zum positiven Gesamteindruck liefern auch die Zeichnungen von Emilio Pilliu, die durch Pastelltöne und Manga-Optik punkten. Etwas unschön fällt nur in ein paar Szenen die rechtwinklige Anordnung größerer Vordergrundelemente um den Mittelpunkt herum auf – hier könnte in Zukunft etwas filigraner modelliert werden.

Lohnt sich der (Rundum-)Blick also? Auf jeden Fall liefert Oniride eine vielversprechende erste Vorlage ab. Über das Novum der sphärischen Darstellung hinaus schlägt Magnetique bisher allerdings eher konventionelle Wege ein und bleibt auch ohne Kadrierung weitestgehend eine filmische Darstellung, in der die einzelnen sphärischen Panels die Handlung durch sequenzielle Schnappschüsse einer virtuellen Panoramakamera abbilden. Es bleibt noch weiter auszuloten, welche innovativen Möglichkeiten sich aus der Verortung in der Sphäre ergeben. Dennoch: Ein erster Schritt aus dem Flachland ist getan – in welche Richtung die Reise gehen kann und welche Rolle Magnetique im zukunftsträchtigen Bereich der 360°-Comics spielen wird, wird vielleicht mit dem Erscheinen von Episode 2 – angekündigt für Ende dieses Jahres – um ein Detail klarer.

 

Magnetique Ep. 01
Oniride (D), Fabio Corrirossi (W), Emilio Pilliu (P)
Veröffentlicht im Oculus Store, 07.09.2016,
frei erhältlich für GearVR
<http://www.oniride.com/magnetiquevr>