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Beschreibungen/Einschreibungen

Manga and the Representation of Japanese History rezensiert von Lukas R. A. Wilde

Roman Rosenbaum und seine zwölf Mitstreiter_innen in Manga and the Representation of Japanese History haben sich keiner einfachen Aufgabe verschrieben. Das spezifische Thema ›Geschichts­darstellungen‹ erscheint gegenüber der Fülle allgemeiner Publikationen zum Manga überschaubar, doch schon nach einem kurzen Blick in Vorwort und Inhalt hat man Respekt vor der Phänomenfülle dieser Thematik – und auch der damit verbundenen Bandbreite methodischer und disziplinärer Zugriffe.

Bereits die beiden ersten Aufsätze, die sich dem Werk von Tezuka Osamu1 widmen, legen eine unvermeidliche perspektivische Doppelung offen: Während sich Rachael Hutchinson mit der Darstellung der japanischen Frühgeschichte und des Yamato-Mythos in Tezukas unvollendetem Hi no Tori (engl.: Phoenix) befasst, untersucht Rosenbaum die Einschreibung von Zeitgeschichte in Tezukas Werk Tetsuwan Atomu (dt.: Astro Boy), der als Allegorie auf die japanische Nachkriegskultur untersucht wird. ›Geschichte‹ wird durch alle Beiträge hindurch als ein solch dynamisches Feld verstanden, das nicht nur lediglich mehr oder minder angemessen repräsentiert werden kann, sondern in Form soziopolitischer, ökonomischer, ideologischer und kultureller Kräfte stets auch auf die Möglichkeiten der Repräsentation zurückwirkt.

Multiperspektivität ist aber gleichzeitig in Bezug auf die Untersuchungsgegenstände selbst geltend zu machen: »the ability of manga to ›rewrite, reinvent, and re-image‹ Japan’s history« (xv) impliziert das nicht unambitionierte Ziel, ›Manga‹ in all seinen Facetten abbilden zu wollen.2 John A. Lent stellt in seinem Vorwort voran, dass darunter eben nicht nur narrative ›Story-Manga‹ fallen, sondern auch das weite Feld der gakushû: (Lern-)Mangas und Online-Strips, argumentative Propaganda-Werke in Comicform, und ebenso transmediale media mikkusu (›transmedia storytelling‹-) Franchises3 im Anime/Videogame-Verbund, sowie schließlich auch Manga-ähnliche Magazinpublikationen.

Matthew Penneys Essay, »Making history: Manga between kyara and historiography«, darf in vielerlei Hinsicht als Kernstück des Bandes verstanden werden. Der kanadische Historiker nimmt anhand kuriosester Gegenstände viele nachfolgende Fragen vorweg und führt sie zu einem konzisen Panorama zusammen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet die japanische Geschichts-›Enzyklopädie‹ Moe moe eiyû jiten (2008), die historische Text- und Datensammlungen mit über 50 kyara-artworks verbindet (jap. kyara: eine Art stilisierter Charakter),4 in denen Richard Löwenherz oder Karl der Große in Gestalt von kawaii-Archetypen (jap. kawaii: cute) und ›Gothic Lolita‹-Inkarnationen auftreten. Das transmediale kyara-Phänomen (vgl. 146) wird dabei mit dem ohnehin intermedialen Charakter des ›Manga‹ zusammen­gebracht, in dem die inkommensurabelsten (und auch von der Manga-Forschung häufig übersehenen) Elemente aufeinander prallen können: »including the characteristic fictional narratives in graphic art but also texts, essays, diagrams, interviews and authorial interjections.« (156) Penney argumentiert damit auch gegen japanische Otaku- (›Fandom‹-) und Postmoderne-Diskurse im Sinne Azuma Hirokis, die in ihrer Kritik den Vielschichtigkeiten des Konsum- und Rezeptionsverhaltens gegenwärtiger Otaku-Kulturen (Plural!) nicht gerecht würden.5 Die Kuriosität von Moe moe eiyû jiten läge darin, gerade nicht allein als Softcore-Pornografie aufzugehen: »Some manga sell primarily because of the presentation of historical information and analyses.« (164) Der Umkehrschluss dieser Feststellung führt Penney zu kriegsverherrlichenden Otaku-Lexika des Zweiten Weltkriegs zu­rück – Lolita-Uniformschau erneut inklusive –, um auch dieses Bild mit den komplexen Arbeiten Ôtsuka Eijis zu kontrastieren, der in seinen historiografischen Gedankenexperimenten gerade die Konstruiertheit des ›Phantasmas Geschichte‹ zum Thema macht. Widersprüche, die sich zusammenfassend gerade nicht in der Analyse einzelner Werke lösen lassen, sondern vor der Kulisse einer entfesselten Medien- und Bilderkultur gedeutet werden müssen!

Der positive Eindruck, den die ersten Beiträge hinterließen, findet seine Bestätigung in Erik Ropers Untersuchung japanischer (Web‐)Comics, die sich in ebenso lobenswerter wie drastischer Weise mit der Zwangsprostitution (ianfu) während des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzen. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Arbeiten des geschichtsrevisionistischen Kobayashi Yoshinori, dessen auflagenstarke Gômanism-Manifeste weit über Japans Grenzen hinaus für Empörung gesorgt haben und als abschreckendes Beispiel in zahlreichen Beiträgen des Bandes präsent sind. James M. Shield untersucht ausführlich, wie sich Kobayashi als Autor, kyara-Avatar sowie intra- und extradiegetischer Erzähler zugleich inszeniert, um ein collagenartiges Pandämonium aus Karikaturen, Fantasy-Kitsch, Fotomaterial und surrealistischen artworks zu einem nationalistischen Comic-Manifest zu verbinden. Shields arbeitet den spannenden Widerspruch heraus, dass es gerade die subjektive Persönlichkeit Kobayashis ist, auf die eine überindividuelle National­identität projiziert wird. Nicht weniger skandalös wurden die Manga kenkanryû-Werke (Hate the Korean- Wave) von Yamano Sharin aufgenommen, die Raffael Raddatz gewissermaßen ergänzend heranzieht. Trotz vergleichbarer geschichtsrevisionistischer Zielsetzungen stehen sie für einen ganz anderen Umgang mit dem Medium: Kenkanryû präsentiert fiktive ›Enthüllungsstories‹ über das Japan-Korea-Verhältnis, was Raddatz vor allem im Kontext der medialen Einbettung interessiert. Durch Polarisationsmechanismen in tendenziösen Online-Message-Boards und Foren kultiviere sich eine Art »Hobby Nationalismus« (227), als dessen spillover effect Werke wie Kenkanryû erst begreifbar werden: Die Suche nach ›unterdrückten Wahrheiten‹, »the assiduous searching and finding of random information and facts (preferably online)« (ebd.), steht so in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrem medialen Kontext.

Irgendwo zwischen diesen Extremen rangieren Yasuhiko Yoshikazus Geschichtscomics, in denen der »Public Historian« (124) Yasuhiko ›entpolitisierte‹ und ›persönliche‹ Aventüren in historischen Settings (wie der besetzten Mandschurei) verspricht. Problematisch daran sind für Emer O’Dwyer in seinem Beitrag nicht nur die unmarkierten Grenzen von historischen Fakten zu nostalgischen Schwärmereien, sondern vor allem das hohe Missbrauchspotential, das – im Kontext der realen ›Gedächtnis­debatten‹ der 1990er Jahre – unter dem Genrestempel ›historischer Manga-Roman‹ bewusst in Kauf genommen werde.

Damit ist bereits das zweite große Thema des Bandes angesprochen, das in keiner Manga-Beschäftigung fehlen darf: der Zusammenhang von Manga und Genre, insbesondere in seiner Funktion zur Differen­zierung von Leserschaften nach Geschlecht, Alter oder Berufsstand. So zeigt Ulrich Heinze in einer spannenden Verschränkung der eingangs erwähnten Perspektiven auf Geschichte, wie sich innerhalb des an junge Leserinnen gerichteten Genres von shôjo-Mangas (jap. shôjo: Mädchen) wandelnde Erzählstrukturen (etwa über barocke ›Europa‹-Fantasien) als Reflexion gesellschaftlicher Wandlungen der 1980er und 90er Jahre auffassen lassen.6 Ähnlich verhandelt Paul Sutcliff Rolle und Funktion mittelalterlicher Edo-Szenarien als ›postmoderne Fantasie‹ in Hanzô no mon (engl.: Path of the Assassin) und Vagabond, auch wenn der unvermeidliche Bezug zu Murakami Takashis Superflat-Manifest hier eher wie ein Stichwort anmutet.7 Der analytisch schärfste Beitrag zum Thema ›Genre‹ stammt von Peter C. Luebke und Rachel DiNitto, die sich an ein close reading der Arbeiten des kontroversen Maruo Sue­hiro, vor allem dessen Planet of the Jap (1985), wagen.8 Die Autor_innen zeigen, wie sich Maruos sexuell aufgeladenen Splatter-Fantasien jeder Einordnung in Underground, Arthouse oder Mainstream entziehen und dabei ein ästhetisch wie ideologisch irritierendes Spiel aufrecht erhalten. Maruos Faszination für faschistoide Bildsymbolik lässt eine Lesart als voyeuristisches exploitation ebenso zu wie die der kritischen Satire.

Ein wenig aus dem Rahmen fällt schließlich Wai-Ming Ngs umso interessanterer Beitrag zum Austausch­geschehen chinesischer und japanischer Populärkultur am Beispiel der (ursprünglich chinesischen) Historienzyklen Legend of the Three Kingdoms.

Eine weite Fülle an Phänomenen und Zugängen also, was gleichzeitig Gewinn und Bürde darstellt. Zwischen den diversen disziplinären Ansätzen wünscht man sich oft klarere Standortbestimmungen: für den Aufbau des Bandes, dem eine thematische oder chronologische Gliederung nicht geschadet hätte, ebenso wie für die einzelnen Beiträge selbst. Vielfach lässt sich erst bei vertiefter Lektüre entnehmen, ob die Autor_innen eher am Manga selbst, an ›Geschichte‹ im japanischen Gegenwarts­ bewusstsein oder an sehr spezifischen Wechselwirkungen dazwischen interessiert sind.

In seinem Fazit »Towards a Summary« weitet Rosenbaum den argumentativen Rahmen sogar noch weiter aus, indem er – in der Sache völlig zutreffend – die Kulturspezifik der diskutierten ›brands‹ (vgl. 253) von Geschichtsdarstellungen noch einmal relativiert: einerseits, da der synkretistische ›Manga‹ selbst alle nur denkbaren Traditionen aufgenommen habe, andererseits, da er als Speerspitze eines weltweiten ›Cool Japan‹-Images längst Teil einer transnationalen Konsumkultur geworden sei. Insofern wolle man Manga (durchaus mit dem Zusatz: »and by extension comics in general«, 14) sogar als ›Gateway‹ zu grafischen Nachbarkünsten auf allen Kontinenten verstanden wissen. Dass solch programmatische Feststellungen kaum zu einem kohärenteren Gesamteindruck zurückführen, muss nicht unbedingt als Nachteil gewertet werden: Deutlich herausgearbeitet haben die Referent_innen doch vor allem die inhärenten Gefahren des Wunsches nach Homogenisierung und Widerspruchsfreiheit. Manga and the Representation of Japanese History darf nicht nur als vielgestaltiger Forschungsbeitrag zum Thema Geschichtsdarstellungen verstanden werden; von allen inhaltlichen Fragen abgesehen muss der Band tatsächlich als beeindruckender Überblick zur Vielfältigkeit japanischer Visuo-Populärkultur bezeichnet werden – der Preis der Übersichtlichkeit sei dafür gerne gezahlt!

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Bibliografie

  • Azuma, Hiroki: Otaku. Japan’s Database Animals. Übers. v. Jonathan E. Abel. Minneapolis: Univ. o. Minnesota Press, 2009.
  • Berndt, Jaqueline: Considering Manga Discourse. Location, Ambiguity, Historicity. In: Japanese Visual Culture. Explorations in the World of Manga and Anime. Hg. v. Mark W. MacWilliams. Armonk et al.: Sharpe, 2008, S. 295–310.
  • Berndt, Jaqueline: Manga: Medium, Kunst und Material. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2015.
  • Galbraith, Patrick W.: Moe. Exploring Virtual Potential in Post-Millenial Japan. In: Ejcjs. Electronic Journal of Contemporary Japanese Studies <http://www.japanesestudies.org.uk/articles/2009/Galbraith.html#_e>. 31.10.2009. Letzter Zugriff am 07.10.2015.
  • Heinze, Ulrich: Japanische Blickwelten. Manga, Medien und Museen im Zeichen künstlicher Realität. Bielefeld: transcript, 2013.
  • Itô, Go: Manga History Viewed through Proto-Characteristics. In: Tezuka. The Marvel of Manga. Hg. v. Philip Brophy. Melbourne: National Gallery of Victoria, 2006, S. 107–113.
  • Jenkins, Henry: In Defense of Moe. An Interview with Patrick W. Galbraith (Part One). In: Confessions of an Aca-Fan. The Official Weblog of Henry Jenkins <http://henryjenkins.org/2015/01/in-defense-of-moe-an-interview-with-patrick-w-galbraith-part-one.html>. 26.01.2015. Letzter Zugriff am 07.10.2015.
  • Kuresawa, Takemi: Kyarakutâ bunka nyûmon. Tokyo: NTT, 2010.
  • Luebke, Peter C. u. Rachel DiNitto: Maruo Suehiro’s ›Planet of the Jap‹: Revanchist Fantasy or War Critique? In: Japanese Studies 31.2 (2011), S. 229–247.
  • Lunning, Frenchy (Hg.): Mechademia 2. Networks of Desire. Minneapolis: Univ. of Minnesota Press, 2007.
  • Lunning, Frenchy (Hg.): Mechademia 6. User Enhanced. Minneapolis: Univ. of Minnesota Press, 2011.
  • MacWilliams, Mark W. (Hg.): Japanese Visual Culture. Explorations in the World of Manga and Anime. Armonk et al.: Sharpe, 2008.
  • Maynard, Michael L.: Mediated Appeal of Kawaii »Cute« Mascot Characters in Japanese Consumer Culture. A Case of Kumamon. In: IJOCA International Journal of Comic Art 17.1 (2015), S. 358–366.
  • Murakami, Takashi: Superflat. Tokyo: Madra, 2000.
  • Murakami, Takashi: Early 21st Century. About Japanese Character Culture. In: Pictoplasma 2. Contemporary Character Design. Hg. v. Peter Thaler, Robert Klanten u. Nicolas Bourquin. Berlin: Gestalten, 2003, S. 2–4.
  • Occhi, Debra J.: Consuming Kyara ›Characters‹. Anthropomorphization and Marketing in Contemporary Japan. In: Comparative Culture 15 (2010), S. 78–87.
  • Steinberg, Marc: Otaku Consumption, Superflat Art and the Return to Edo. In: Japan Forum 16.3 (2004), S. 449–471.
  • Steinberg, Marc: Anime’s Media Mix. Franchising Toys and Characters in Japan. Minneapolis: Univ. of Minnesota Press, 2012.
  • The Japan Foundation (Hg.): The Japan Foundation Traveling Exhibition. JAPAN: Kingdom of Characters. Tokyo: The Japan Foundation, 2010.
  • Wilde, Lukas R. A.: Kingdom of Characters. Die ›Mangaisierung‹ des japanischen Alltags aus bildtheoretischer Perspektive. In: Visual Narratives – Cultural Identities. A Special-Themed Issue of Visual Past, 2016 [in Vorbereitung].

 

  • 1] Wie allgemein üblich werden japanische Familiennamen zuerst genannt.
  • 2] Vgl. hierzu immer noch MacWilliams 2008 und insb. Berndt 2008, sowie aktuell Berndt 2015.
  • 3] Vgl. Steinberg 2012, vii–xvii.
  • 4] Gemeint sind visuelle Figurenstereotype, die außerhalb narrativer Kontexte verortet sind und in den letzten Jahren zu einem der meistdiskutiertesten japanischen Popkultur-Phänomene geworden sind. Seit etwa der Jahrtausendwende wird Japan ein Aufstieg zum kyara senshinkoku, zur ›Character Supermacht‹, nachgesagt (vgl. Murakami 2003; Occhi 2010; The Japan Foundation 2010). Um diese Problematik ranken sich gleichermaßen medien- und darstellungstheoretische wie soziologische und kulturphilosophische Debatten (vgl. Itô 2006, Kuresawa 2010, Maynard 2015, Wilde 2016). Für einen schnellen Überblick zum moe-Phänomen (vgl. Galbraith 2009) sowie dessen fünf Interviews mit Henry Jenkins (vgl. Jenkins 2015).
  • 5] Azumas kontrovers diskutiertes Dôbutsuka suru posuto modan liegt auch auf Englisch vor (Azuma 2009), vgl. auch die Beiträge in Lunning 2007 und 2011.
  • 6] Diese Perspektiven lassen sich in Heinzes im gleichen Jahr erschienen Band Japanische Blickwelten (2013) ausführlicher weiterverfolgen.
  • 7] Vgl. Murakami 2000; Steinberg 2004; Berndt 2015, 191–202.
  • 8] Einzig bei dieser Untersuchung handelt es sich um eine Wiederveröffentlichung (vgl. Luebke/DiNitto 2011), was aufgrund der Qualität des Beitrags nur als Gewinn gewertet werden kann.

 

Manga and the Representation of Japanese History
Roman Rosenbaum (Hg.)
London et al.: Routledge, 2012 (HC) / 2013 (Paperback)
276 S., 90,00 GBP (HC) / 34,99 GBP (Paperback)
ISBN 978-0-415-69423-0 (HC) / 978-1-138-85740-7 (Paperback)