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Überlebensgroß und ganz nah

André the Giant rezensiert von Chris Ullrich Cochanski

Man nannte ihn das ›achte Weltwunder‹ und inszenierte ihn als den größten Kämpfer der Welt. Aber kann man die Geschichten von ›André the Giant‹ und dem Menschen dahinter gleichermaßen erzählen? Box Brown wagt es in einer Biographie.

Als der Riese eines Morgens aufstehen will, gibt sein Fuß unter dem Gewicht seines Körpers nach. Sein Gegner vom Vortag muss ihm in den Krankenwagen helfen. Schon zur selben Zeit werden Pläne geschmiedet, den gebrochenen Fuß ›Killer Khan‹ in die Schuhe zu schieben – und so den Kartenverkauf für das unausweichliche Comeback anzuheizen.

Box Brown, Autor, Zeichner und nach eigenen Angaben lebenslanger Wrestlingfan, versucht sich an der Vita eines der bekanntesten Wrestlers aller Zeiten. Der Untertitel, Life and Legend, zeigt seinen Anspruch, sowohl ›André the Giant‹ als auch der Privarperson André Roussimoff (1946-93) gerecht zu werden. Brown möchte also beides: die Geschichte einer Figur und ihres Darstellers erzählen und gleichzeitig die Mechanismen erörtern, mit denen aus der Realität eine Fiktion wird – und umgekehrt.

In seinem programmatischen Vorwort gibt der Autor selbst zu bedenken, was für einen Drahtseilakt dies in der Welt des ›professional wrestling‹ darstellt. Roland Barthes, den auch Brown zitiert, erkannte bereits ganz richtig, welches Spiel mit der Fiktion dieser Sport betreibt. Die Akteure im Ring – Kämpfer, Schiedsrichter, Manager, Ansager – erzeugen gemeinsam die Illusion eines Kampfes. Und obwohl das Wesen dieser Illusion heute weithin bekannt ist, ist dem Wrestling sein ambivalentes Verhältnis zur Wahrheit erhalten geblieben.

Der Comic bezieht sich zumeist auf die Schilderungen dieser Weggefährten, die als Freunde um die ganze Welt reisten, sich im Ring aber oft als ›Feinde‹ gegenüberstanden. Die Biografie des Riesen wird so in Anekdoten von je einer bis drei Seiten erzählt. Brown belegt diese Geschichten mit Aussagen aus Interviews oder Artikeln, räumt aber ein, dass die Leser_in letztlich die ›Wahrheit‹ nicht erwarten könne. Obwohl diese Quellen Authentizität schaffen möchten, sind sie nur ein Metakommentar, kein Beweis des Geschehenen; ihr Bezugsrahmen ist nicht die Welt außerhalb, sondern die innerhalb des Rings. Wrestling ist Spektakel, und es ist nur schwer möglich zu beurteilen, wo es beginnt und wo es endet. Das Produkt eines Wrestlers ist nun einmal der Wrestler selbst – und wenn sich dessen Wert steigern lässt, indem man einen der großen Gegner noch größer aussehen lässt, dann ist die Wahrheit kein Wert an sich.

Der Autor begeht allerdings nicht den Fehler, die kleinen und großen Inszenierungen unwidersprochen im Raum stehen zu lassen. Er zeigt nur genug von den Geschehnissen innerhalb des Rings, um deren Mechanismen zu erklären. Hier offenbart sich Browns Liebe zum Thema, wenn er offen bewundernd über die Fähigkeit der Sportler spricht, einen Kampf zu simulieren, ohne sich wirklich zu verletzen. Aber gleichzeitig zeigt er eben auch die triste Realität des reisenden Schaustellers – Alkohol, Drogen, Anfeindungen durch Fans und echte Prügeleien. Die Leser_in bekommt das Triumphale, das Banale und das Tragische in gleichem Maße, mit den gleichen stilistischen und erzählerischen Mitteln, präsentiert. Der Autor enthält sich zwar hier des Kommentars, aber er verschweigt nichts: Wir sehen Andrés (Nicht-)Verhältnis zu seiner unehelichen Tochter ebenso wie seine Alkoholprobleme und das friedliche Leben auf seiner Ranch. Die gesundheitlichen Probleme, die Andrés Akromegalie (Riesenwuchs) unweigerlich mit sich bringt, werden ebenso dargestellt wie das latent Monströse, wenn er mit vor Zorn verzerrtem Gesicht ein Hotelfenster zerbricht.

Ceci n‘est pas une petite bouteille.

Browns Zeichenstil spiegelt diese Ambivalenzen wieder. Sein André ist im Ring ein perfekt rechteckiger Fels in der Brandung, den wir stets leicht von unten sehen, wie ihn auch die Zuschauer_innen sehen mussten: Überlebensgroß. Heroisch. Inszeniert. Folgen wir ihm aber dann in die Flugzeuge, Hotelzimmer und Diners, die das Privatleben der Wrestler bestimmen, wird André zum unförmigen Riesen, der sich krümmen muss, um in die Welt, die ihn umgibt, hineinzupassen. Die einfachen, stilisierten Zeichnungen sind mithin etwas zu statisch, um die Bewegungen und die Geschehnisse im Ring greifbar darstellen zu können. Dennoch eignet er sich aufgrund seiner einfachen Expressivität für die stillen Momente der Geschichte. Browns Zeichnung betont das Narrative, nicht das Reale. Wenn so zum Beispiel Hulk Hogan von seinem Verhältnis zu André erzählt und dabei dessen Größe um mindestens zwei Zoll übertreibt, dann sehen wir André, wie er mehrere Köpfe über Hogan aufragt. Später sehen wir Hogan in rocky 3, wo er einen von André inspirierten Part übernimmt – und folglich, genau wie dieser inszeniert, seinerseits turmhoch über Filmgegner Sylvester Stallone aufragt. Die Ambivalenz der Quellen wird dadurch aufgebrochen, dass sie ganz einfach beim Wort genommen werden. Bei Brown besitzen die Dinge eben keine feste Größe: alles ist exakt so groß, wie es erzählt wird.

Zusammenfassend ist Box Brown ein unaufgeregtes Buch gelungen, das nicht nur den Lebensweg Andrés nachzeichnet, sondern gleichzeitig einen Einblick in die verschlossene Welt des ›professional wrestling‹ liefert. Natürlich ist sie damit in erster Linie für diejenigen Leser_innen interessant, die sich ohnehin für diese Sportart interessieren. Aber auch wer mit dem Thema bislang wenig anfangen konnte, wird sich dem stillen Charme dieser würdevollen Biografie kaum entziehen können.

 

André the Giant
Life and Legend
Box Brown
New York, N.Y.: First Second, 2014
240 S., 17,99 US Dollar
ISBN 978-1-59643-851-4