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Metamorphose zwischen Bombenrauch und roter Seide

Das falsche Geschlecht rezensiert von Anastasia Blinzov, Christian Tischer und Anna Beckmann (Arbeitskreis Comic Berlin)

Das falsche Geschlecht von Chloé Cruchaudet erzählt die reale Geschichte vom Verfall einer Beziehung in Paris während des Ersten Weltkriegs. Paul, der sich als Frau verkleidet, um nicht als Deserteur erkannt zu werden, verliert sich immer mehr in seiner neuen Rolle. Seine Erinnerungen an den Krieg führen zu Träumen, Wahnvorstellungen und schließlich zu gewaltvollen Ausbrüchen gegen seine Frau Louise. Dieser Comic gewinnt seine Authentizität aus dem subjektiv-emotionalen Einblick in die Situation der Protagonist_innen.

Der Comic beginnt mit einem Gerichtsprozess gegen Louise Landy. Nur wenige Seiten später taucht die Erzählung in die Vergangenheit ein, um zu zeigen, wie es zu dieser Anklage kam. Paul und Louise lernen sich im Paris kennen und heiraten. Direkt im Anschluss an die Hochzeit wird Paul aber in die französische Armee eingezogen und an die Front des Ersten Weltkriegs versetzt. Nach einem längeren Hospitalaufenthalt durch Selbstverletzung soll er wieder an die Front zurückkehren. Paul beschließt zu desertieren und versteckt sich in der Wohnung seiner Frau, wo er sich bald wie im Gefängnis fühlt, geplagt durch Alpträume und Visionen seines verstorbenen Kameraden. Verkleidet als Frau möchte er der Enge der Wohnung und den Alpträumen entfliehen, denn als Suzanne kann Paul die Wohnung verlassen und durch die Stadt streifen. Im Laufe der Zeit verinnerlicht Paul immer mehr das, was als Schauspiel gedacht war. Als ›Königin der Nacht‹ erobert er als Suzanne das Pariser Nachtleben mit all seinen erotischen Facetten. Spannungen in der Beziehung und der regelmäßige, starke Alkoholkonsum lassen die Begegnungen zwischen Louise und Suzanne jedoch immer öfter eskalieren und von Seiten Suzannes gewalttätig werden. Am Ende werden alle Deserteure begnadigt, und Suzanne wird wieder zu Paul. Doch die Begnadigung lässt weder die Alpträume, die paranoiden Zustände oder die Alkoholexzesse enden, noch kann Paul Suzanne vergessen, jene Rolle, die ihm das Begehren und die Liebe der anderen eingebracht hat. Schließlich wird Louise das Leben von Paul beenden, der sich in seiner Paranoia und Gewalt verloren hat.

Dieser in dunklen Tönen gehaltene Comic von Chloé Cruchaudet basiert auf einer wahren Geschichte. Doch der romantische bis alptraumhafte Charakter der Zeichnungen und Panels erinnert in keiner Weise an Reportage-Comics, die oft mit Artefakten der Authentizität hausieren gehen. Vielmehr lassen die wie Wolken oder Rauchschwaden gestalteten Panelgrenzen den Eindruck entstehen, durch einen Schleier auf etwas weit Entferntes zu blicken. Im Gerichtsprozess, der die eigentliche Geschichte rahmt, werden die Erinnerungen von Louis und Zeug_innen mit der Argumentation des Staatsanwalts vermengt. So erscheint das in der Binnenerzählung Gezeigte als subjektiver Bericht der Befragten und vom Interesse des Fragenden geleitet. Die persönlichen, emotionalen Darstellungen lassen das weit Entfernte nah an die Leser_innen herantreten. In Detailzeichnungen der Protagonist_innen zeigen sich die Gefühle, Ängste und die Anspannung. Die Authentizität dieser Erzählung entsteht gerade durch den subjektiv-emotionalen Blick auf das Geschehen.

Die Zeichnungen sind dunkel und verlaufen in ihren Rändern. Die Panelgrenzen werden zu Rauchschwaden, die über den zerstörten Häusern liegen. Einzelne Details sind rot eingefärbt. Dadurch entsteht ein spannender Kontrast, der die Frage aufwirft, welche Gemeinsamkeiten die rot betonten Aspekte besitzen. Rot ist die Farbe der Weiblichkeit, von Suzannes Lippen und Fingernägeln, aber auch die Farbe der Gefahr und des Blutes. So werden die Hauptmotive der Geschichte, Liebe, Begehren und Gewalt, durch die Farbe Rot markiert und miteinander verknüpft. Das Verbotene ist auch immer das Begehrte und gleichzeitig die Gefahr.

Neben den roten Farbakzenten sind es besonders die Zeichnungen aus den Schützengräben und die Erinnerungen an den Krieg, die Das falsche Geschlecht zu einem so beeindruckenden wie bedrückenden Werk machen. Denn gerade die Erinnerungen und Träume, die im Laufe der Geschichte zu paranoiden Wahnvorstellungen Pauls werden, zeichnen das authentische Bild von zwei Menschen, die durch den Krieg ihr Handeln und ihre Identität in Frage stellen.

 

Das falsche Geschlecht
Chloé Cruchaudet
Aus dem Franz. v. Marc André Schmachtel u. Sahar Rahimi
Berlin: Avant, 2014
160 S., 24,95 Euro
ISBN 978-3-945034-08-8