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Graphic Novels und Comics
Baetens und Frey über ein dynamisches Medium

The Graphic Novel: An Introduction rezensiert von Stephanie Keunecke

The Graphic Novel: An Introduction untersucht die Bildsprache wie auch die historische Entwicklung der Graphic Novel und erläutert ihre Unterschiede zu Comics. Jan Baetens und Hugo Frey zeigen eindrucksvoll, wie eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Medium der Graphic Novel stattfinden kann.

Jan Baetens und Hugo Frey setzen sich das hohe Ziel, für die Graphic-Novel-Forschung wie -Lehre ein theoretisches Fundament zu schaffen und ein Analyseinstrumentarium zu entwickeln. Sie bieten viele Ansatzpunkte für die weitere Forschung und legen großen Wert auf eine offene Herangehensweise, die das so lebendige und vielseitige Medium würdigt. Sie sind der Meinung, dass Graphic Novels als eigenständiges Medium und nicht bloß als Gattung des Comics eine spezifische Analyse-Methodik brauchen, da sie sich in wichtigen Punkten von Comics unterscheiden.

Im ersten Teil der Einführung widmen die Autoren sich dem historischen Kontext der Graphic Novel. Im zweiten Teil geht es um die formale Gestaltung, der dritte behandelt Themen, die im Zusammenhang mit der Graphic Novel immer wieder diskutiert werden. Der Fokus von Baetens und Frey liegt auf der US-amerikanischen Graphic Novel und klammert japanische und europäische Werke bewusst aus. Zwar ist den Autoren der Einfluss von Mangas und den Werken aus Europa, die zwischen Comics und Graphic Novels nicht so stark unterscheiden, bewusst, jedoch sind sie der Meinung, dass die amerikanischen Künst­ler_innen eine stärkere Wirkung auf die Entwicklung des Mediums hatten. Nachvollziehbar ist das aufgrund der Fülle an Werken zwar, als Leser_in wünscht man sich aber auch eine Einführung in die europäische Graphic Novel und des Mangas im asiatischen Raum.

Die Unterschiede zwischen Comics und Graphic Novels sehen Baetens und Frey nicht nur in der unterschiedlichen Distribution und der öffentlichen Wertschätzung, sondern auch inhaltlich: Graphic Novels sprechen oft ernste Themen an und sind zumeist für erwachsene Rezipient_innen gedacht. Auch zeichnerischer Stil, formale Gestaltung und Eigenständigkeit der Erzählung fließen in diese Überlegungen ein, jedoch wollen die Autoren keine Merkmalsliste erstellen, schließlich sind die vielen Parameter, anhand derer Comic und Graphic Novel unterschieden werden müssen (Produktion, Stil, Distribution, Adressaten, Thema etc.), so vielfältig, dass es zwischen den prototypischen Fällen auch eine große Grauzone gebe (vgl. 7–23).

Das Buch geht vor allem auf Fragen ein, wie das visuell-literarische Medium definiert werden kann, wie es als narrative Form gelesen wird, welchen Einfluss Seitengestaltung und Format haben und welche Theorien in der Analyse Anwendung finden können. Die Autoren greifen insbesondere auf populäre Beispiele zurück, was sehr der Anschaulichkeit dient. Ziel der von den Autoren entwickelten Konzepte ist es, Wissenschaftler_innen und Studierenden Werkzeuge an die Hand zu geben, mit deren Hilfe sie sich selbst mit anderen Werken auseinandersetzen können.

Teil 1: ›Context‹

Der historische Überblick beginnt in den Jahren nach 1945 und reicht bis in die heutige Zeit hinein. Die Autoren bieten einen Querschnitt durch die Entwicklungen der amerikanischen Comicindustrie, die ›moralische Panik‹ der 1950er Jahre und die daraus entstehende Zensur, die zum Katalysator für tiefgreifende Veränderungen wurde. Die Darstellung von Gewalt und Sex war in den USA damals unerwünscht, was nicht nur dazu führte, dass die Comics einer Zensur unterzogen wurden, sondern auch dazu, dass sich Künstler_innen, die sich von der öffentlichen Meinung nicht beeindrucken ließen, einen Ausdruck in den sogenannten Underground Comix suchten. Diese richteten sich mit ihren revolutionären Ansichten zu sexueller Befreiung, Selbstverwirklichung und Drogenkonsum gegen die vorherrschenden Moralvorstellungen. Die Underground Comix der 1960er bilden dabei laut Baetens und Frey die Basis für die Graphic Novels. Beeinflusst durch die Pop Art begann die Grenze zwischen Hoch- und Popkultur zu verschwimmen, sodass Graphic Novels nach und nach ihren Weg von den Comic- in die Buchläden fanden. Die Abgrenzung von Graphic Novel und Comic ziehen die Autoren dabei vor allem anhand der thematischen wie gestalterischen Unterschiede wie auch der Serialität, wodurch deutlich wird, dass Graphic Novels nicht nur hochwertigere und teurere Comics sind, sondern dass sie eine eigenständige Text-Bild-Hybridform bilden.

Teil 2: ›Form‹

Im zweiten Teil findet eine detaillierte formale Analyse statt. Baetens und Frey nennen drei Aspekte, die eng miteinander verknüpft sind und in je einem Kapitel genauer untersucht werden: Organisation der Multipanel-Seiten, Bild-Text-Komposition und Stil sowie Formen von Narration (vgl. 103).

Die Autoren legen dem Kapitel zum Panel- und Seitenlayout die Ansätze von Thierry Groensteen und Benoît Peeters zugrunde und entwickeln diese weiter. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der Beziehung zwischen Komposition und Narration: Welches Element soll für die Leser_in präsent sein? Geht es der Künstler_in um den Lesefluss oder um die Kenntnisnahme der Gestaltung (vgl. 108)? Die Autoren weisen auf die Bedeutung der Unterbrechung der standardisierten Panelanordnung hin, durch die sich das Seitenlayout verändert (vgl. 104) und der Lesefluss beschleunigt oder verlangsamt wird. Dabei ist die Variation der visuellen Gestaltungsmöglichkeiten eng mit der inhaltlichen Ebene der Panels verknüpft (vgl. 130). Darauf aufbauend findet eine Weiterentwicklung von Peeters’ vier ›modes of panel utilization‹ statt: Dominanz von Narration oder Komposition und ihre Autonomie oder gegenseitige Abhängigkeit (vgl. 108). Das Modell wird durch eigene Kategorien erweitert: (In-)Stabilität des Seitenlayouts und (Nicht-)Wiederholung von Panelinhalten (vgl. 131). Dadurch ergeben sich jeweils vier Möglichkeiten, anhand derer eine Graphic Novel formal eingeordnet werden kann, was auch der hermeneutischen Interpretation dient (vgl. 132).

Das zweite Kapitel beschäftigt sich u. a. mit den Bildanteilen von Orten und Figuren: Dominieren Gebäude oder Personen das Panel bzw. die Seite? In welcher Beziehung stehen sie zueinander? Ferner setzen die Autoren sich hier mit der Darstellung von Körper und Gesicht der Figuren auseinander. Weitere Themen sind Art und Weise der Figurencharakterisierung und der Schlüsselszenen sowie das in- bzw. explizite Sichtbarmachen von Gewalt.

Daran anschließend werden im dritten Kapitel die formalen Gestaltungsmethoden des Erzählens untersucht. Durch bspw. die Ausgestaltung des Raums, das Zeigen von Ereignissen oder den beständigen Fokus auf Gesichter lassen sich Rückschlüsse auf die Konzeptionierung des Plots ziehen. Die Rolle des Erzählers ist dabei eine andere als in einem Roman; dadurch, dass der Erzähler durch seine Worte visuell präsent wird, bietet sich die Möglichkeit, die Verbindungen zwischen Autor, impliziten Autor und Erzähler zu überdenken.

Baetens und Frey schlagen als grundlegende Herangehensweise ein ›close reading‹ vor, das die Aufmerksamkeit für die dynamischen Aspekte des Leseprozesses schärft und alle bisher genannten Aspekte berücksichtigt. Dadurch soll ein ganzheitliches Werkverständnis entstehen und Einsicht in das Wie und Warum des Erzählens gegeben werden: Wie funktioniert diese Graphic Novel, und warum funktioniert ihr Konzept? Im Zusammenspiel mit den vorgestellten Analyseansätzen können wichtige Erkenntnisse gewonnen werden und die Graphic Novel in ihrer Gesamtheit besser verstanden werden.

Teil 3: ›Themes‹

Der dritte Teil behandelt die Themen, die Baetens und Frey zufolge in der öffentlichen Diskussion immer wiederkehren: die wechselseitige Beeinflussung von Graphic Novel und fiktionaler Literatur sowie die mit historischen Inhalten und Formen von Comics verbundene Nostalgie. Der kürzeste Part des Buches scheint auch zugleich der unausgereifteste zu sein, da er im Gegensatz zu den anderen beiden weniger auf Forschungen zurückgreift. Trotzdem enthält er interessante Ansätze und Denkanstöße, wie etwa das Verschwimmen von Hoch- und Popkultur, was das Adaptieren erfolgreicher Romane oder kanonischer Texte ermöglicht habe. Gleichzeitig zitieren und interpretieren Graphic Novels Romane und treten mit ihnen in einen intertextuellen Dialog. Dadurch werde das Medium der Graphic Novel als ein literarisches Phänomen wahrnehmbar. Die Experimentierfreude der Graphic-Novel-Zeichner_innen und das Ausloten literarischer Adaptionsmöglichkeiten unterscheiden sie laut Baetens und Frey von den Comiczeichner_innen.

Das Fehlen eines zusammenfassenden Kapitels, das eine adäquate Ergebnispräsentation, eine Reflexion bezüglich des Erreichens der Ziele sowie mögliche Ansätze zur weiteren Forschung enthalten müsste, schmälert den positiven Gesamteindruck, den man auf den vorherigen 250 Seiten gewinnt.

Baetens und Frey machen plausibel, dass es für Graphic Novels und Comics unterschiedliche Analyseansätze geben sollte. Aber ganz so verschieden, wie die Autoren es gern hätten, sind diese nicht. Das für die Graphic Novel vorgeschlagene ›close reading‹ mit dem Blick auf Seitenlayout, Zeichenstil, Sprache etc. kann genauso gut auf Comics angewendet werden. Die Unterscheidung von Serialität und unabhängigem Einzelwerk kann nur einen Teil der Analyse ausmachen, ebenso die intertextuellen Bezüge, die schließlich auch in beiden Medien zu finden sind. Inhaltlich jedoch zeigen sich große Unterschiede, die eine andere Herangehensweise rechtfertigen: Beispielsweise setzen die Interpretation eines Kafka-Textes oder das Nachspüren der Hintergründe der Taten eines Serienmörders ein anderes Verständnis und einen anderen Wissensstand voraus als Superhelden-Comics. Aber auch hier sind die Grenzen fließend. Man denke nur an Zombie-Comics, die manchen Graphic Novels in nichts nachstehen. Sie unterscheiden sich weder inhaltlich, vom hohen moralischen Anspruch her noch von der expliziten Gewaltdarstellung von ihnen. Einmal mehr muss darauf hingewiesen werden, dass es immer auf das zu analysierende Werk ankommt.

Insgesamt handelt es sich um ein lesenswertes Buch, das seine Stärken vor allem im zweiten Teil hat. Darin werden einige Analysestrategien anhand gut ausgewählter Beispiele präsentiert und durch theoretische Ansätze unterstützt. Die Fundierung durch Theorien und Illustrierung durch Beispiele ergibt einen Einführungstext, wie er grundlegender und gut verständlicher nicht sein könnte.

 

The Graphic Novel
An Introduction
Jan Baetens u. Hugo Frey
New York: Cambridge Univ. Press, 2015
286 S., 17,99 GBP
ISBN 978-1-1-0702-523-3