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Wenn Grammatik alltagstauglich wird
Neil Cohn entstaubt Linguistik mit visuellen Narrativen

The Visual Language of Comics rezensiert von Janina Wildfeuer

Mit The Visual Language of Comics macht Neil Cohn für ein breites Publikum greifbar, was er in den letzten Jahren in vielen einflussreichen Veröffentlichungen und auf seiner Homepage, The Visual Language Lab, bereits oft betont hat: Comics und ihre visuelle Sprache sind unserer verbalen Sprache ähnlicher als wir denken. So erhalten wir einen spannenden Einblick in das menschliche Denken und Verarbeiten von Bildern, wenn wir Comics mit linguistischen und kognitionswissenschaftlichen Methoden untersuchen. Ein interessanter Nebeneffekt: Systematische Grammatik wird plötzlich (wieder) interessant – nicht nur für die Wissenschaft.

Dies ist eine der ersten Monografien, die sich explizit mit dem Konzept einer visuellen Sprache von Comics beschäftigt, indem es linguistische wie auch kognitionswissenschaftliche Analysekriterien für eine systematische Beschreibung der Struktur sequentieller Bilder aufstellt. Ziel des Buches ist es, eine grundlegende Einführung in die Auseinandersetzung mit visueller Sprache und die Beschreibung eben jener als spezifische Eigenschaft von Comics zu geben.

Aufbauend auf einer Vielzahl kleinerer Publikationen stellt Cohns Buch keine erneute Auseinandersetzung mit typischen Charakteristika grafischer Literatur dar, wie sie von Will Eisner, Scott McCloud oder Thierry Groensteen schon viele Jahre vorher geleistet wurde, sondern konzentriert sich auf sprachähnliche Strukturen in nicht- oder nur teilweise sprachlichen Medien mit besonderem Fokus auf visuellen Narrativen. Cohn zufolge konstituieren diese Medien nämlich eine jeweils eigene visuelle Sprache, die es besonders für sequentielle Bilder noch zu analysieren gilt. Eine zentrale Rolle spielt hierbei der Begriff der ›Grammatik‹, der auch im Alltagsverständnis fest mit Konzepten des Sprachsystems und dem Verstehen sprachlicher Äußerungen verbunden ist. Cohn nutzt diese Verankerung sehr sinnvoll, indem er eine solche ›Grammatik‹ auch für Comics und visuelle Sprache annimmt und damit – eher unbewusst, als dies explizit zu besprechen – bahnbrechenden Arbeiten der multimodalen Linguistik folgt, die ganz ähnlich von einer Grammar of Visual Design sprechen (vgl. Kress / van Leeuwen 1996). Während jedoch Kress / van Leeuwen einen systemisch-funktionalen Begriff von Grammatik nutzen und soziale Kontexte miteinbeziehen, um narrative Prozesse in Bildern zu beschreiben, fokussiert Cohn eine Beschreibung grammatischer Einzelheiten sowie Bestandteile größerer Einheiten und macht damit ein verstaubtes Konzept innerhalb der Linguistik wieder salonfähig.

Mit seinem Buch richtet sich Cohn nicht nur an ein wissenschaftliches Publikum in der Linguistik und Literaturwissenschaft, der Psychologie und (Neuro-)Kognitionswissenschaft sowie den Bild- und Medienwissenschaften, sondern öffnet das Thema auch für ein breiteres Publikum mit Interesse an Comics, visuellen Narrativen und dem Verstehen von Bildern. Grammatische Begriffe, an deren Besprechung in der Schule man sich leicht zurückerinnert und die nun in einen größeren und vor allem anwendungsbezogenen Kontext gesetzt werden, helfen somit, die oftmals als ›trocken‹ angesehene Disziplin der Linguistik auch bei eingefleischten Comic-Fans wieder interessant zu machen.

Die argumentativ bereits sehr starke Einleitung führt hierfür zunächst detailliert an das Thema heran, ohne dass dafür aber linguistisches Fachwissen notwendig ist. Sie leistet eine ausführliche Begriffserklärung sowie eine Verdeutlichung des Konzepts der visuellen Sprache – im Vergleich zu anderen Sprach- oder Kommunikationssystemen wie Musik, Tanz oder Gestik – und den für die kognitive Verarbeitung notwendigen Kapazitäten.

Das Buch ist in zwei große Abschnitte unterteilt, die sich (1) der Struktur der Visual Language und (2) den verschiedenen ›Sprachen‹ in den USA, Japan sowie Australien widmen. Der erste Abschnitt besteht aus fünf Kapiteln, die unterschiedliche linguistische Kategorien und Teildisziplinen auf und für die Beschreibung der Charakteristika von Comics anwenden. Die ersten Kapitel (Visual Morphology und Panels and Constructions) untersuchen Elemente einer visuellen Morphologie und stecken zugleich den Bereich des visuellen Lexikons ab. Hier ist zum Beispiel von morphemähnlichen Bestandteilen in Comics, von so genannten ›Upfixes‹ die Rede, mit denen Cohn typische Symbole oberhalb von Köpfen (z. B. kleine Herzen oder Fragezeichen) bezeichnet. Auch ›Eye-Umlaute‹ als Beschreibungen für Herzen, Sterne oder Dollarzeichen, die anstelle von Augen in einem Gesicht abgebildet sind, sieht Cohn als Morpheme, die mit anderen Einheiten zunächst zu Panels und dann zu größeren Einheiten verbunden werden. Es gelingt Cohn, eine in vielerlei, aber nicht gänzlicher Hinsicht dem grammatischen System der verbalen Sprache ähnliche Systematik von Prozessen der Bedeutungskonstruktion aufzuzeigen. Der Autor beweist dabei anhand vieler Beispiele, dass visuelle Einheiten in Comics Prinzipien folgen, die uns hinlänglich aus unserem verbalen Sprachsystem bekannt sind – und ruft damit zugleich grammatische Grundkenntnisse über dieses System in Erinnerung.

Die beiden folgenden Kapitel (Visual Language Grammar: Narrative Structure und Navigation of External Compositional Structure) sind größtenteils von der kognitiven Linguistik inspiriert und öffnen das Thema hin zu Fragen nach Verstehensprozessen bei der Rezeption von Bildern. Auch hier werden in der Linguistik und insbesondere der Syntax sowie in den Kognitionswissenschaften etablierte Konzepte und Analyseinstrumentarien herangezogen, nachvollziehbar erklärt und schließlich auf Comics übertragen, um deren narrative Struktur genauestens beschreiben zu können. So stellt Cohn unter anderem folgende Kategorien zur Beschreibung der visuellen narrativen Grammatik von Comicstrips zur Verfügung: Orienter, Establisher, Initial, Prolongation, Peak, Release. Diese werden auf die einzelnen Panels im Comicstrip übertragen, so dass eine narrative Hierarchie bzw. ein Spannungsbogen entsteht. Auch für größere Comicseiten stellt Cohn ein Beschreibungsmuster bereit, das einen möglichen Lesepfad (ein allerdings durchaus umstrittenes Konzept in der Analyse visueller Artefakte) nachzeichnen kann.

Kapitel 6 (Cognition of Visual Language) rundet diesen Fokus auf die kognitive Verarbeitung der visuellen Sprache ab, indem es empirische Analyseresultate von EEG- und fMRI-Experimenten bereitstellt, die ähnliche Ergebnisse wie Experimente mit verbaler Sprache zeigen und dadurch fast pionierhaft den Verstehensprozess in der Rezeption von Comics und visueller Sprache nachvollziehen.

Im zweiten Teil des Buchs untersucht Cohn drei unterschiedliche Typen visueller Sprache: American, Japanese und Central Australian Visual Language. Er stellt für jede eine Beschreibung der grafischen Struktur, der morphologischen Eigenheiten und der narrativen Grammatik dar. Cohn beweist damit die Anwendbarkeit des im Vorhinein zwar an kurzen Beispielen jeweils illustrierten, aber vor allem theoretisch formulierten Instrumentariums, wenn auch die hier angeführten Sprachsysteme weit über die Sprache von Comics hinausgehen, wie Cohn selbst im abschließenden zehnten Kapitel (The Principle of Equivalence) feststellt.

Mit seinem Buch betritt Cohn bisher nur wenig erforschte Wege sowohl innerhalb der Comicforschung als auch in den Kognitionswissenschaften. Während die Linguistik zwar inzwischen zumindest im Bereich der multimodalen Diskursanalyse Bilder und visuelle Narrative als Untersuchungsobjekte anerkennt (vgl. Kress / van Leeuwen 1996; 2001), stehen Fragen nach dem Verständnis dieser Textformen vor allem in der Vereinigung dieser Disziplinen immer noch hoch im Kurs. Eine Hinwendung zur systematischen und auf grundlegenden linguistischen Konzepten beruhenden Beschreibung der für dieses Verständnis notwendigen Strukturen ist dabei ein kluger und nachvollziehbarer Schachzug, der in der Untersuchung von Medientexten bereits vielfältig unternommen wurde (man denke nur an das viel diskutierte Film-Sprache-Paradigma in der Filmsemiotik; vgl. etwa Metz 1973) und hier vertraute Begriffe und Regelsysteme um ein ebenso verständliches Vokabular erweitert. Und vielmehr noch: Dieses Vorgehen liefert, dies beweist Cohn bereits ausführlich, überzeugende Ergebnisse, die nicht nur für die Comicforschung, sondern die gesamte Bildwissenschaft von Interesse sind.

Besonders auszuzeichnen ist dabei die lockere und einleuchtende Art, in der Cohn mit bedeutungsschweren Begriffen umgeht und sie in kurzen Erläuterungen für das breite Publikum erreichbar macht. Aus linguistischer Sicht fehlt es dabei manchmal an Präzision und Eindeutigkeit, wenn zum Beispiel Grammatik, meist als Oberbegriff für Phonologie (Lautlehre), Morphologie (Wortbildungs- und Wortformbildungslehre) und Syntax (Satzlehre) genutzt, nun in der Verwendung einer Grammatik der visuellen Sprache oberhalb der Syntax angesetzt und zugleich mit dem Konzept der narrativen Struktur gleichgesetzt wird. Insgesamt ist diese Übertragung klug gewählt, kann aber ebenso leicht zu Verwirrung führen, ist die Annahme einer Syntax visueller und audio-visueller Medien doch hoch umstritten. In zeitgenössischen linguistischen Arbeiten zur Analyse von visuellen Narrativen werden die von Cohn gewählten Beschreibungsmodalitäten eher der textuellen bzw. diskursiven Ebene zugeschrieben und ohne Bezug zur Grammatik analysiert (vgl. Veloso/Bateman). Cohn macht diesen Unterschied zwar deutlich, die explizite Argumentation dafür fällt aber manchmal zugunsten anderer Ausführungen etwas kürzer aus. Expliziter wird dies in seinen zahlreichen anderen Artikeln.

Nichtsdestotrotz stellt Cohns Buch einen wichtigen Bruch mit der bisherigen Auseinandersetzung und Übertragung sprachlicher Strukturen auf andere Medien dar, insbesondere im Hinblick auf das von ihm so stark vertretene Interesse an neurokognitiven Untersuchungen des Verstehensprozesses. Es gelingt ihm, ein anspruchsvolles Theoriemodell mit dringend benötigten empirischen Experimenten zu verbinden und so überzeugende Analysemöglichkeiten für die Frage nach dem Comicverständnis bereitzustellen. Für die Comicforschung ist dies eine innovative Herangehensweise, deren Verbindung aus systematisch-linguistischen sowie den noch neue Wege weisenden kognitiven Untersuchungen eine wertvolle Erweiterung bisheriger Diskussionen darstellt.

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Bibliografie

  • Kress, Gunther u. Theo van Leeuwen: Multimodal Discourse. The Modes and Media of Contemporary Communication. London: Arnold, 2001.
  • Kress, Gunther u. Theo van Leeuwen: Reading Images. The Grammar of Visual Design. London u. New York: Routledge, 1996.
  • McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art. New York: Harper Perennial, 1993.
  • Metz, Christian: Sprache und Film. Ãœbers. v. Micheline Theune u. Arno Ros. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1973.
  • Veloso, Francisco O. u. John Bateman: The multimodal construction of acceptability: Marvel’s Civil War comics books and the Patriot Act. In: Critical Discourse Studies 10,4 (2013), S. 427–443.

 

The Visual Language of Comics
Introduction to the Structure and Cognition of Sequential Images
Neil Cohn
London: Bloomsbury, 2013
221 S., 24,99 GBP (ca. 25,00 Euro)
ISBN 978-1-4-4118-145-9