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Wie erzählen Comics?
Thierry Groensteens Comictheorie. Teil 2

Comics and Narration rezensiert von Arno Meteling

In seiner comictheoretischen Studie Comics and Narration (2013) führt Thierry Groensteen sein innovatives wie idiosynkratisches Grundlagenprojekt einer formalistischen Bestimmung des Comics fort. Diskussionen über Narratologie und Rhythmus werfen dabei eigenständige und erhellende Schlaglichter auf die sequenzielle Kunst.

1999 erscheint mit Système de la bande dessinée des Comicforschers Thierry Groensteen eine der wenigen Studien, die sich mit grundlegenden comictheoretischen Fragen beschäftigt. Acht Jahre später veröffentlicht die comicwissenschaftlich einschlägige University Press of Mississippi mit The System of Comics die englischsprachige Übersetzung. So begriffs- wie beispielverliebt versucht sich der Band an einer – im weitesten Sinne semiotischen – Strukturbeschreibung der Erzählform ›Comic‹. Entscheidend dafür sind die eigens geprägten Konzepte des spatio-topical system und der arthrology, also ein Wissen von den Platzierungen und Verbindungspunkten der Einzelbilder, den Gelenken (gr. arthron), die das ›System‹ eines Comics formieren.

Das Hauptargument Groensteens ist der Wechsel des Blicks vom isolierten Panel oder dem gutter, dem Raum zwischen den Panels (auf den beispielsweise Scott McCloud in Understanding Comics setzt), hin zur Seite oder Doppelseite des Comics. Das Bild- und Rahmennetzwerk einer Seite, zum Beispiel die Waffelstruktur eines multiframe, wird zur entscheidenden Wahrnehmungsgröße.

Diese Perspektive setzt Groensteen in dem Nachfolgeband Bande dessinée et narration: Système de la bande dessinée 2 (2011) unter anderem mit dem Konzept der »Rhythms of Comics« (133)  fort. 2013 erscheint die Übersetzung Comics and Narration. Gab es am ersten Band noch die amerikanische Kritik, dass die Beispiele fast ausschließlich aus dem frankobelgischen Raum kämen, ist in der Fortsetzung eine Verschiebung hin zu amerikanischen und japanischen Comics zu beobachten – wie in den Ausführungen zu Chris Ware, Dave McKean, David Mazzucchelli oder Miwa Ueda. In acht Kapiteln diskutiert Comics and Narration abstrakte Comics, Sequenzialität, Seitenlayout, Rhythmus, Erzählerinstanz und Subjektivität sowie Comics als Gegenwartskunst, bleibt aber weitgehend episodisch und versucht sich an keinem übergreifenden Theoriegebäude.

Das erste Kapitel »Comics and the Test of Abstraction« beginnt, ausgehend vom Fantagraphics-Sammelband Abstract Comics (2009), einigermaßen beiläufig mit der Bestimmung von abstract und infranarrative comics. Das erste meint Sequenzen abstrakter Zeichnungen und das zweite Sequenzen figurativer Elemente, also Zeichnungen, die gegenübergestellt kein kohärentes Narrativ ergeben. Obwohl diese Unterscheidung eher en passant erfolgt, hat sie die entscheidende Funktion, eine grundlegende Frage zur Diskussion stellen zu können: nämlich, ob es überhaupt Comics ohne mimetische Dimension geben kann, wenn also allein noch der für Groensteen entscheidende »formal apparatus« (11), bestehend aus Sprechblasen und Panels, ein »grid whose compartments are left empty« (11), vorhanden ist.

Im zweiten Kapitel »New Insights into Sequentiality« begibt sich Groensteen dann ins Zentrum der Bestimmung von Comics als ›sequential art‹ nach der klassisch gewordenen Definition Will Eisners. Er geht dabei zunächst dem jede comictheoretische Diskussion beherrschendem Motiv nach, das schon Lessing in seiner Laokoon-Studie umtreibt: Kann ein einzelnes Bild eine Geschichte erzählen? Gibt es überdies einen ontologischen Unterschied zwischen einem Stand- und einem Bewegtbild? Groensteen kommt zu einer eher konservativen Erkenntnis. Zwar folgt er der Spur des Laokoon-Diskurses, dass in einem Bild eine Geschichte verborgen sein kann, stellt aber anhand eines – leider nicht abgebildeten – Marmaduke-Cartoons fest: »What disappears in the single-panel version is the unfolding, the rhythm, the payoff. These are precisely the signature features of a narrative.« (23) Im Gegensatz zur Bedeutung, die auch ein Einzelbild herstellen kann, muss das Narrativ Anfang, Ende und einen Weg dazwischen besitzen.

Das fünfte und längste Kapitel »The Question of the Narrator« ist der Erzählinstanz von Comics gewidmet. Von den wichtigsten Erzähltheorien ausgehend (Tzvetan Todorov, Gérard Genette, Franz K. Stanzel) formuliert Groensteen das Problem einer Comicnarratologie als Effekt seiner »polysemiotic nature« (82) – allerdings nicht in dem Sinne einer Kombination von diegetischem Text und mimetischem Bild, sondern das Gezeigte (shown) selbst ist die Geschichte (told). Im Comic gibt es dabei wie im Film keine Nullfokalisierung (Genette), da stets durch eine Linse geschaut wird (ocularization). Beide Medien zeichnen sich deshalb durch kontinuierliche Indizes auf die Erzählinstanz, auf die Mittelbarkeit, aus. Sinnfälligerweise verwendet Groensteen für Comics deshalb den Begriff des monstrator, der zeigend für die erzählende Form des Comics verantwortlich ist. Diesem steht der reciter gegenüber, die verbale Instanz des Comics, eine Entsprechung des Voice-over im Film. Abseits aller weiteren Differenzierungen der Erzähl- und Fokalisierungsfigurationen gibt es für Groensteen auch eine letzte – supradiegetische – Instanz des narrator, den er als den »great arthrologist« (96) bezeichnet, also den Verantwortlichen für das gelenkbestimmte Comicnetzwerk.

Zentral für Groensteens Betrachtungsweise ist schließlich das siebte Kapitel »The Rhythms of Comics«, in dem er den Comic mit der Musik (und auffälligerweise nicht mit dem Gedicht) vergleicht und dabei mit Metaphern wie »beat« (136), »intervals« (137), »cadence« (138) und »stanza« (145) beschreibt. Anhand des bekannten Comics Mr Natural’s 719th meditation (1970) von Robert Crumb sowie Chester Browns Louis Riel (2003) und Alan Moores Watchmen (1986) verweist er beispielsweise auf den gleichmäßigen Rhythmus des Waffelmusters. Eine perfekte rhythmische Verschaltung von Comicapparatus und Leserauge findet für Groensteen statt, wenn eine Comicfigur von links nach rechts über eine Seite geht. Durch die Panelstruktur ist die Bewegung der Figur segmentiert – und zwar genau wie der Prozess der Comiclektüre selbst. Rhythmus, so zitiert Groensteen Pierre Suavanets etymologische Formel, is »a kind of ›temporalized spatial form‹: It is precisely at the intersection of these two dimensions, space and time, that comic art has developed its own rhythmic practice.« (138)

Comics and Narration analysiert zwar ein »System des Comics«, entwirft aber selbst keines. Das Buch ist kein Werkzeugkasten, es produziert keine »adequate tools to describe certain specific mechanisms« (21) im Comic. Methodisch verortet Groensteen sein Projekt zwar im Rahmen einer erweiterten Semiotik, ist aber zum einen einer strikt formalistischen Perspektive verpflichtet und zum anderen radikal am Beispiel orientiert. Er verfährt so eklektizistisch in der Wahl von Gegenstand und Sekundärliteratur wie idiosynkratisch in der Analyse. Der Stil von The System of Comics und Comics and Narration referiert dabei auf eine Theoriebildung, wie sie in den 1970er bis 90er Jahren in Frankreich populär geworden ist. So erinnert die spielerische Freude am Neologismus an Jacques Derrida oder Michel Chion. Noch näher ist das Projekt allerdings den beiden – auch von Groensteen direkt zitierten – Kino-Büchern von Gilles Deleuze (Das Bewegungs-Bild, Das Zeit-Bild), die eine Melange der Zeit- und Körpertheorie Henri Bergsons mit dem Feuerwerk des semiotischen Vokabulars Charles S. Peirces darstellen. Wie bei Deleuze ergeben sich auch für Groensteen theoretische Erkenntnisse und begriffliche Zuschreibungen stets aus der exemplarischen Beobachtung, sind also immer nah am analysierten Objekt. Während die Perspektive von Comics and Narration also zwischen Analyse, Deskription und informativen Randbemerkungen einigermaßen launisch oszilliert, ist der Wille zur Theorie, zur formalistischen Definition und zur Begriffsbestimmung sowie zu einem innovativen Blickwechsel auf den Comic als rhythmisch funktionierendes Bildsequenznetzwerk immer deutlich.

 

Comics and Narration
Thierry Groensteen
Ins Engl. übers. v. Ann Miller
Jackson: Univ. Press of Mississippi, 2013
205 S., 55,00 US Dollar
ISBN 978-1-61703-770-2