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Der amerikanische Traumdeuter

Winsor McCay (1869–1934): Comics, Filme, Träume rezensiert von Tim Eckhorst

Wenige Jahre nachdem Sigmund Freud in Europa Die Traumdeutung (1899) vorgestellt hat, beschäftigt sich ein amerikanischer Zeichner auf eine ganz andere Art und Weise mit Träumen: Winsor McCay zeichnet Comics darüber. Noch vor dem Erscheinen der englischen Übersetzung von Freuds Werk veröffentlicht McCay bahnbrechende Comics, die Alexander Braun in einem ausführlichen Band würdigt.

Alexander Braun ist ein geschickter Autor und Gestalter, das beweist er in seinem Buch Winsor McCay (1869–1934): Comics, Filme, Träume. Durch eine dem Vorwort vorangestellte Bilderstrecke, in der Fotos ihrer gezeichneten Entsprechung gegenübergestellt werden, ist die Leser_in bereits im Thema ›Winsor McCay‹ angekommen, noch bevor sie das Inhaltsverzeichnis erreicht hat. Beispielsweise trifft die Betrachter_in auf eine ganzseitige Zeichnung eines Zeitungsjungen, gefolgt von dem Foto einer Gruppe junger Zeitungsverkäufer. Die High Society, Seebäder und politische Versammlungen werden ebenfalls zunächst in gezeichneter Form und darauffolgend fotografisch abgebildet. Auch McCays Figur ›Gertie the Dinosaur‹ blickt der Leser_in entgegen – und gleich auf der folgenden Seite schaut man dem Paläontologen Prof. Charles W. Gilmore ins Gesicht. Was dann folgt, ist eine Würdigung des Schaffens McCays auf über 350 Seiten, welche die Arbeit des Comic-Innovators umfangreich dokumentiert. Abbildungen exemplarischer Werke vermitteln in Kombination mit zeitgeschichtlichen Dokumenten, einer detaillierten Biografie und kenntnisreichen Analysen ein lebendiges Bild des Zeichners und seiner Zeit.

McCay ist der Mann, welcher der Welt u. a. die Comicreihen Little Sammy Sneeze, Dream of the Rarebit Fiend und Little Nemo in Slumberland geschenkt hat. Besonders erfreulich ist, dass Braun dank der guten biografischen Aufzeichnungen ausführlich darauf eingehen kann, wie der junge Winsor McCay in der Comicbranche gelandet ist und wie sein genauer Werdegang vom Portraitzeichner in einem Museum zum gefeierten ›Comic-Star‹ aussieht. Solche fast lückenlosen Informationen zum Lebenslauf eines Comiczeichners findet man sonst selten. Zu würdigen ist auch, dass intensiv behandelt wird, wie die Geschichte weitergeht, nachdem McCay seinen künstlerischen Höhepunkt erreicht hat. Hier geht es u. a. um seinen Sohn Robert, der recht erfolglos versucht, Little Nemo in Slumberland, die wohl bekannteste Reihe des Vaters, fortzuführen sowie die Rezeption des Schaffens von Winsor McCay bis in die heutige Zeit.

Die Comicforschung erfreut sich in Deutschland immer größerer Beliebtheit. Der Comic bahnt sich den Weg in die Universitäten und wird Gegenstand von Bachelor-, Master- und Doktorarbeiten. Aber nicht nur diese Tatsache trägt zur Qualitätssteigerung der Forschungsergebnisse sowie dem neuerlichen Interesse an diesen bei, sondern auch der durch das Internet erleichterte Zugang zur Primärliteratur. Wo Forscher_innen vor einigen Jahrzehnten nur Vermutungen über Zeichner und Werk anstellen konnten (und dies gerne und viel getan haben), kann heute über Tatsachen geschrieben werden. Arbeiten wie die Alexander Brauns, die z. T. nur infolge dieser Entwicklung möglich werden, können kaum ausreichend gewürdigt werden. Denn mit dem vorliegenden Band holt er den Comic aus seinem Schattendasein und stellt ihn ganz selbstverständlich in einen literarischen, kultur‑ und kunsthistorischen Kontext. McCay findet sich plötzlich zwischen Traumdeutung und Surrealismus wieder. Dieser Ansatz ist neu, erfrischend und genau richtig, da er über das hinausgeht, was gemeinhin mit Massenmedien wie dem Comic verbunden wird. Fundierte Kenntnisse Brauns über die damalige Zeit sorgen trotz des Umfangs für ein kurzweiliges Lesevergnügen. Er ordnet McCay gekonnt ein, so dass der reichhaltig bebilderte Band nicht zu einer bloßen Niederschrift der McCay’schen Biografie wird, sondern den Zeitgeist und die Lebenswelt des Zeichners lebendig werden lässt. Die ersten Filme, Freak-Shows, Jahrmärkte und zahlreichen Attraktionen auf Coney Island, die Chicagoer Weltausstellung von 1893 (McCay war möglicherweise dort), die boomende Autoindustrie – dies alles erklärt das Schaffen McCays sehr präzise und verdeutlicht die Eindrücke, die der Zeichner gesammelt haben muss. Braun gelingt es dabei stets, einen angenehmen Lesefluss aufrecht zu erhalten, indem er sich nicht in Details verliert, die ein umfassendes Hintergrundwissen erfordern.

Der Ausstellungskatalog macht seltenes Material sichtbar, wie diese Skizze von Gertie the Dinosaur.

Nicht zu kurz kommt dabei die Tatsache, dass McCay bereits zu einem frühen Zeitpunkt mit einem Medium experimentiert, das damals noch in den Kinderschuhen steckt. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts lotet er sehr gekonnt die Grenzen des Comics aus und sprengt sie immer wieder. Dies wird eindrucksvoll durch zahlreiche Comicseiten belegt. Die zum Riesen gewordene Figur Little Nemo erklimmt mühelos Wolkenkratzer, reitet in seinem mit Beinen ausgestatteten Bett durch Häuserschluchten, klettert als Zwerg auf Pflanzen und wird schließlich zu einer Figur, die einem Zerrspiegel entsprungen zu sein scheint. Der Zeichner passt dabei stets den formalen Rahmen an: Wird Little Nemo also in extreme Höhen gestreckt, schlägt sich dies auch in den Formaten der Panels nieder. Mit Abbildungen wie diesen macht Braun nicht nur auf das Ausnahmetalent Winsor McCay aufmerksam, sondern schafft überhaupt erst das Bewusstsein dafür, dass der Zeichner seiner Zeit weit voraus war und seine Experimentierfreudigkeit unbedingt wieder neu entdeckt werden muss. Dies macht McCay und diesen Band für jeden Comicinteressierten zur Pflichtlektüre.

McCay ist im Übrigen noch viel mehr als ein begnadeter Comiczeichner. Er ist Vaudeville‑Künstler und Trickfilmpionier. Es ist kaum auszumalen, was der Welt entgangen wäre, hätte er einen ›normalen‹ Beruf ergriffen anstatt tausende Zeichnungen anzufertigen, um gertie the dinosaur (1914) und damit die erste Zeichentrickfilmfigur zu erschaffen und im Alleingang zu animieren. Zahlreiche im Buch abgebildete stills geben einen Eindruck von der Schaffensfreude McCays.

Der vorliegende Band ist ursprünglich als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung erschienen. Aber wer die Ausstellung nicht gesehen hat, sollte erst recht einen Blick riskieren. Schön wäre es gewesen, wenn dem Band eine DVD mit dem filmischen Œuvre beiliegen würde, um auch diese Facette McCays so eindringlich zu dokumentieren.

Hingewiesen sei an dieser Stelle auch noch auf den 600 Seiten umfassenden Band Winsor McCay: The complete Little Nemo 1905–1927, der im November 2014 im Taschen Verlag erschienen ist und ebenfalls von Alexander Braun betreut wurde. Dieser rundet das ›McCay‑Projekt‹ für das heimische Bücherregal ab und lässt den hier besprochenen Katalog geradezu wie ein Begleitheft wirken.

 

Winsor McCay (1869–1934)
Comics, Filme, Träume
Alexander Braun
Bonn: Bocola, 2012
368 S., 49,00 Euro
ISBN 978-3939625407